«Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.» Von wem dieses Bonmot ursprünglich stammt, ist nicht abschliessend geklärt – sein Wahrheitsgehalt bestätigt sich in diesem Corona-Jahr 2020 indes einmal mehr. Einen «educated guess» wagt nun die Forschungsstelle Tourismus CRED-T der Universität Bern. Gemeinsam mit weiteren Schweizer Hochschulen und Experten und Expertinnen aus dem dem In- und Ausland machte sie sich Mitte November Gedanken zum Strukturwandel im Schweizer Tourismus. Die Ergebnisse dieses Think Tanks liegen nun in Form eines 17-seitigen Thesenpapiers vor.

Thesenpapier «Strukturwandel im Schweizer Tourismus – Einfluss der Corona-Krise auf die touristische Nachfrage, die touristischen KMU-Strukturen und den touristischen Arbeitsmarkt»

«Wir leben in einer Art Zwischenwelt.» Das Zitat von Karin Frick (Gottlieb Duttweiler Institut GDI) versinnbildlicht die aussergewöhnliche Lage, in der nicht nur der Schweizer Tourismus steckt. Keiner wisse, wie lange sie dauern wird, was zu Unsicherheit, Ängsten und Überforderung führe. «Abstand heisst die Devise – für Staaten ebenso wie für Personen. Grenzen werden wieder vermehrt gesichert statt aufgelöst.» Die damit verbundene grosse Planungsunsicherheit zwinge Betriebe und Touristiker dazu, in Szenarien zu denken. Die Leitplanken für die Gedankenspiele bilden dabei der Verlauf der Pandemie, die behördlichen Massnahmen sowie die konjunkturellen Auswirkungen.

Die Publikation formuliert Thesen zu drei Kernbereichen: zur touristischen Nachfrage, zur touristischen KMU-Struktur sowie zum touristischen Arbeits- und Bildungsmarkt. Zunächst jedoch schicken die Expertinnen und Experten einige Grundannahmen voraus: So habe die Pandemie bisher noch keine eigenen Trends erschaffen, sondern beschleunige und verstärke vielmehr strukturelle Veränderungen, die bereits seit Jahren im Gange sind (z.B. die Digitalisierung). Die Pandemie wirke quasi als «Brandbeschleuniger». Trotzdem warnen die Expertinnen und Experten schon jetzt vor Gefahren wie einer Frankenaufwertung oder fehlenden Ausbildungsplätzen und Perspektiven für die junge Generation.

Die Nachfrage ist da, doch sie wandelt sich
Auf Nachfrageseite sehen die Tourismusexperten zunächst ein grundsätzlich ungebrochenes Interesse an touristischen Dienstleistungen. Die Menschen wollten zwar reisen, aber sie dürften dies nur eingeschränkt tun. Die grössten Barrieren seien die regional unterschiedlichen, häufig wechselnden und deshalb unabsehbaren Quarantänebestimmungen der Behörden. Wer trotzdem reist, der tue dies vorzugsweise abseits der Massen – was vor Ort dann mitunter zu genau jenen Menschenansammlungen führen könne, die die Leute eigentlich meiden wollten.

Ungeachtet des internationalen politischen Hickhacks bei der Öffnung der Skigebiete attestieren die Experten den Winterdestinationen in der Schweiz gute Aussichten. Denn im Vergleich zu Österreich sei in der Schweiz die Abhängigkeit von ausländischen Touristen generell kleiner und im Winter auch geringer als im Sommer. «Es kann erwartet werden, dass die Winterdestinationen kurzfristig vermehrt von ‘Zweitbewohnern’ im Homeoffice, Fernreiseersatz-Touristen oder Wintercamping-Gästen besucht werden.» Mittelfristig werden Binnen- und Nahmarkttourismus mit einer Reisedistanz von 500-700 km an Bedeutung gewinnen, lautet eine der Thesen. Was den asiatischen Markt angeht, rechnen die Autoren mit einer Erholung erst ab dem Jahr 2022.

KMU: Unterschiedliche Betroffenheit
Nicht weniger als acht verschiedene Thesen stellen die Tourismusexperten zur touristischen KMU-Struktur auf. Unter anderem wird konstatiert, dass die touristischen Betriebe nicht alle gleich gut mit der aktuellen Krise umgehen könnten. So erwiesen sich ländliche Beherbergungsbetriebe, die bereits zuvor stark auf inländische Gäste setzten, als resilienter. Während die einheimischen Gäste im Sommer in der Schweiz den meisten alpinen Destinationen einen guten Sommer bescherten, konnten sich der Geschäfts- und Städtetourismus kaum erholen. Eine schnelle Erholung des Geschäftstourismus sei nicht zu erwarten. Neben dem Städtetourismus seinen Eventorganisatoren, Reiseveranstalter und Airlines die grossen Verlierer der Krise.

Arbeits- und Bildungsmarkt: Statt einem Strukturwandel droht ein Strukturabbau
Was den Arbeitsmarkt angehe, so blieben die grossen Entlassungswellen bisher aus. Die Expertinnen und Experten führen dies einerseits auf die nach dem Lockdown gesteigerte Konsumlust der Schweizer Reisenden zurück. Ein weiterer wichtiger Grund sei die Einführung von Kurzarbeit. Diese sei längerfristig jedoch kein Allheilmittel, so die Warnung. «Gerade das Gastgewerbe in den Städten ist durch das vermehrte Homeoffice, die digitalen Meetings sowie den ausbleibenden Fernmarkt-Gästen stark und längerfristig betroffen.» Die Auswirkungen werden sich noch 3-4 Jahre auf dem Arbeitsmarkt zeigen, sind die Autoren überzeugt.

In diesem Zusammenhang warnt das Thesenpapier auch vor einem Strukturabbau und dem Verlust gesunder Betriebe. Das Argument eines strukturbereinigenden Wandels, welches in der Politik oft angeführt werde, sei hier nicht gültig. Von Strukturwandel könne nämlich nur dann gesprochen werden, wenn nicht nur Stellen verloren gehen, sondern auch neue geschaffen werden. Im Tour Operating beispielsweise sei dies nicht der Fall.

Besonders in Gefahr seien Mikrobetriebe und Selbständige. Sie können kaum von den staatlichen Hilfsmassnahmen profitieren. Die Folge seien Existenzängste, sozialer Abstieg und weniger Innovationsgeist.

Durchaus auch positiv Seiten können die Workshopteilnehmenden indes dem Homeoffice-Trend abgewinnen. Dieser werde über Corona hinaus anhalten, was gerade für die Berggebiete in der Nebensaison eine Chance sei. Mobile Arbeit gewinne an Popularität und ermögliche «Bleisure-Reisen» als neue Form der Incentive-Reisen oder Fringe Benefits.

Im Bereich Bildung sehen die Tourismusexperten trotz der aktuell hohen Nachfrage nach Lehrgängen in Tourismus, Hotellerie und Gastronomie Anpassungsbedarf bei den Ausbildungsmodellen und -formen. Diese müssten noch modularer, individueller und flexibler werden. Hybrides Lehren und Lernen gewinne weiterhin an Bedeutung.

Was Betriebe und Politik jetzt tun sollten
Das Thesenpapier schliesst mit einer Vielzahl konkreter Empfehlungen für Betriebe und Politik, welche hier nur auszugsweise wiedergegeben werden können. So seien für die Betriebe – kaum überraschend – auch weiterhin Sicherheit und Sauberkeit Grundvoraussetzungen für das Vertrauen der Gäste. Gleichzeitig dürften die entsprechenden Massnahmen den Gästen nicht die Urlaubsstimmung verderben.

Darüber hinaus sollten die Betriebe die Pandemie unter anderem zum Anlass nehmen, verstärkt auf authentische, regionale und saisonale Produkte zu setzen, sich klarer zu positionieren und zu branden. Aktivitäten sollten möglichst dezentralisiert werden (z.B. abseits der Pisten), die Besucherlenkung optimiert und Menschenansammlungen verhindert werden.

Potenzial erkennen die Expertinnen und Experten zudem in flexibleren Long-Stay-Angeboten und einer Steigerung der Gäste-Loyalität. Kooperationen und eine Bündelung der Kräfte – schon lange vor Corona aktuell – sollten weiter forciert werden. Nicht zuletzt sollte die Bevölkerung in die touristische Entwicklung verstärkt miteingebunden werden.

Von der Politik fordern die Autoren unter anderem ein gesundes Augenmass. Die im Laufe der Krise eingeführten Sicherheitsmassnahmen müssten mit Abflauen der Pandemie auch wieder zurückgenommen werden – anders als dies etwa nach den Attentaten vom 11. September 2001 geschehen sei, in deren Folge die Sicherheitsvorkehrungen im Flugverkehr massiv ausgebaut und bis heute nicht heruntergefahren wurden.

Was die betriebliche Förderung betrifft, so sollte diese zielgerichtet und mit so wenig administrativem Mehraufwand wie möglich erfolgen. Im Tourismus stünden mit Innotour, NRP und SGH bereits Instrumente zur Verfügung, die zukunftsorientiert ausgebaut werden könnten.

Dank Instrumenten wie der Kurzarbeit und der Covid-19-Kredite könne der kurzfristige Schaden geringgehalten und der Strukturwandel in die Zeit des Aufschwungs verschoben werden. Dabei dürfte es aufgrund der föderalistischen Strukturen unweigerlich zu Ungleichbehandlungen (also Wettbewerbsverzerrung) kommen, die jedoch über eine gute Koordination möglichst geringgehalten werden sollten. (pt)

Die vollständige Publikation ist unter diesem Link verfügbar.