Hans Ulrich Gerber, Sie sind seit elf Jahren als Lead-Auditor für HotellerieSuisse im Einsatz. Auf wie viele Audits blicken Sie zurück?

Auf fast 4000.

Wie hat sich Ihr Beruf über die Jahre verändert?

Die Anerkennung für meine Tätigkeit ist gewachsen. Früher wurde gegen 20 bis 30 Prozent unserer Audits Rekurs eingelegt, das heisst, die Hoteliers waren häufig mit dem Ergebnis nicht einverstanden. Heute gibt es so gut wie keine Einsprachen mehr.

Warum nicht?

Wir kommunizieren von Anfang an glasklar, was den Hotelier beim Audit erwartet, und gestalten auch die Ergebnisse transparent und nachvollziehbar. Ausserdem beraten wir die Betriebe bereits vor dem eigentlichen Audit intensiv.

Hans Ulrich Gerber ist seit 2009 Lead-Auditor NAP/SQS bei HotellerieSuisse, verantwortlich für die Kantone Bern und Wallis. Der eidgenössisch diplomierte Maschinen-Mechaniker begann seine berufliche Laufbahn in der Flugbranche, bevor er sich Anfang der 1970er-Jahre selbstständig machte. 1986 übernahm Gerber für 20 Jahre die Direktion des 4-Sterne-Hotels Schloss Hünigen in Konolfingen. Ab 2006 begann der Berner mit dem Aufbau seiner Firma Idea Creation sowie der Entwicklung des E-Commerce-Managementsystems E-Guma. Daneben fungiert der 69-Jährige als Berater in den Bereichen Gastronomie und Hotellerie. Gerber hat vier erwachsene Kinder und lebt in Muri (BE).

Wenn Sie einen Betrieb betreten, nimmt man Sie nicht als Kontrolleur oder Polizisten wahr?

Das wäre eine ganz schlechte Voraussetzung und würde schnell zu einem Problem führen. Ich erwähne bei jedem Audit, dass wir nicht als Inspektoren, sondern als Partner kommen. Wir Auditoren dürfen nie vergessen, dass es sich hier um zahlende Mitglieder handelt und dass von uns stets Respekt und Anstand verlangt wird. Eine gewisse Anspannung bei den Hoteliers ist trotzdem immer da. Zum Teil sind die Begegnungen zu Beginn regelrecht frostig. Es ist deshalb sehr wichtig, sich vor dem eigentlichen Audit genügend Zeit für ein Vorgespräch zu nehmen, bis das Eis gebrochen ist. Man muss dem Hotelier als Mensch begegnen und ein Klima der Offenheit erzeugen. Gelingt das, dann läuft anschliessend meistens auch das Audit wie geschmiert.

Und wenn nicht? Erzählen Sie uns von Ihrem schlimmsten Erlebnis.

Da war das eine Mal im Wallis. Der Gastgeber und seine Frau kamen sehr aggressiv und wütend auf uns zu und beschimpften uns als «die Sterne-Verbrecher aus Bern». Bereits bei der Begrüssung sah ich die Ader auf der Schläfe des Gastgebers vor Zorn pulsieren. Mir war sofort klar: Hier müssen wir zuerst einmal deeskalieren. Wir gaben ihnen die Möglichkeit, Dampf abzulassen. Die beiden haben dann ganze 30 Minuten vor sich hin geschimpft – über die Behörden, über den Verband. Es war eine eigentliche Bilanz all ihrer Frustration. Nach einer halben Stunden trat dann allmählich eine Klimaerwärmung ein. Wir begannen ganz behutsam mit dem Audit, und die Stimmung verbesserte sich weiter. Die Gastgeber haben gespürt, dass wir ihnen Verständnis entgegenbrachten. Plötzlich war es ihnen nicht mehr recht, wie sie uns zuvor behandelt hatten. Es kam eine Entschuldigung nach der anderen. Wir hatten dann letztendlich ein sehr konstruktives Audit. Am Schluss floss Kaffee, und es gab Guetzli. Zum Abschied bekam ich noch eine Musik-CD geschenkt.

Sie haben die Situation um 180 Grad gedreht. Dazu braucht es viel Menschenkenntnis.

Ich habe mal einige Semester Psychologie studiert. Das hat in dieser Situation sicherlich geholfen (lacht). Wir sind zum Glück geschult, mit solchen Situationen umzugehen und nicht noch zusätzlich Benzin ins Feuer zu schütten – was manchmal nicht ganz einfach ist. Aber die Gastgeber haben letztendlich gemerkt: Wir wollen mit ihnen nicht in den Boxring steigen. Hätten wir das getan, wäre das Audit verloren gewesen. Da wir es nicht taten, beruhigten sie sich irgendwann.

Sie stellen also ein gewisses Vertrauensverhältnis her. Dazu gehören aber immer zwei – geraten Sie nie in Befangenheit und schauen mal bei kleineren Mängeln nicht so genau hin, weil Ihnen ein Hotelier sympathisch ist?

Die Befangenheit müssen wir im Griff haben, sonst wären wir für den Job ungeeignet. Natürlich macht es keine Freude, teilweise massive Mängel beanstanden zu müssen. Gerade in Betrieben, die sehr gute Jahre hinter sich haben.

Woran liegt es, wenn ein gut geführtes Hotel plötzlich nachlässt?

Oft an dysfunktionalen Familiensystemen. Viele Betriebe werden in dritter oder vierter Generation geführt. Wenn die Nachfolge ansteht, kann das plötzlich zu beklemmenden Situationen führen. Früher war es selbstverständlich, dass der Nachwuchs den Betrieb übernimmt, ob er wollte oder nicht. Die heutige Generation hat – zum Glück – den Mut, Nein zu sagen. Viele Junge sind im Betrieb aufgewachsen, kennen ihn und die Arbeit ganz genau und wissen, dass sie sich das nicht antun wollen. Vielleicht sind da drei, vier Kinder, aber keines ist bereit, die Nachfolge anzutreten. Oftmals ist diese Tatsache unausgesprochen, aber alle spüren es.

Ich verstehe nicht ganz, wie sich das Nachfolgeproblem auf Ihr Audit auswirkt.

Wenn ein Hotelier realisiert, dass er vor einem ungelösten Nachfolgeproblem steht, kann das Entsetzen auslösen, gefolgt von Enttäuschung, Frustration und schliesslich Resignation. Für viele Hoteliers ist der Betrieb das Lebenswerk. Wenn der Nachwuchs kein Interesse daran zeigt, fragen sie sich, was die jahrzehntelange Arbeit eigentlich gebracht hat. Jeder weitere Franken, den sie in den Betrieb investieren müssten, erscheint dann sinnlos und wird zurückgehalten. So entstehen in bisher sehr guten Betrieben urplötzlich völlig andere Konstellationen. Und auch psychologisch merken wir: Den Leuten geht es nicht gut.

Was machen Sie in solchen Situationen?

Es ist hart, aber wir müssen natürlich unser Programm durchziehen. Mitunter können wir dem Hotel mehr als die vorgesehenen drei Monate gewähren, um festgestellte Mängel zu beheben. Letztendlich geht es uns darum, dass sich die Situation verbessert, und nicht, dass Fristen penibel eingehalten werden.

Gibt es weitere «typische» Konstellationen, die zu Problemen im Betrieb führen?

Auf Probleme stossen wir häufig bei Pachtverhältnissen: Dach und Fach ist beim Besitzer, Inventar und Unterhalt sind Aufgabe des Pächters. Das sind sehr komplexe und konfliktbeladene Situationen, die an nicht wenigen Orten kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Ich habe sehr viele Pachtverhältnisse erlebt, die gescheitert sind. Dieses Modell kann ich heute nicht mehr empfehlen. Ich musste deshalb auch schon zweimal vor Gericht erscheinen.

Man hat Sie verklagt?

Nein, ich wurde als Zeuge vorgeladen. Ich musste aufpassen, nicht instrumentalisiert zu werden: Plötzlich interessierte sich der Pächter peinlich genau für jedes einzelne Kriterium seines 3-Sterne-Hotels und zählte sämtliche Punkte auf, die gemäss meinem Audit nicht erfüllt waren. Die von mir festgestellten Mängel machte er dann gegenüber dem Hotelbesitzer geltend. Da er de facto kein 3-Sterne-Hotel mehr pachtete, wollte er bis zur Ausbesserung der Mängel den Mietzins reduziert haben. Beim letzten Gerichtsfall wurde ich mit 63 Fragen bombardiert. Man muss aufpassen, was man sagt.

Bitte noch eine Anekdote.

Beim Rundgang durch einen Berner Oberländer Betrieb haben wir die Matratzen kontrolliert. Die waren total offen, regelrecht am Auseinanderfallen und völlig verfleckt. Erst dachten wir, es wäre ein Einzelfall, aber die Matratzen waren in allen Zimmern im gleich schlimmen Zustand. Wir waren entsetzt, so etwas hatten wir noch nie erlebt. Auf die eklatanten Mängel angesprochen, entgegneten die Verantwortlichen: «Wir haben sowieso nur chinesische Gruppen, die nur eine Nacht bleiben. Für die ist das gut genug.»

Oje. Und dann?

Wir haben denen sofort klargemacht, dass das so nicht geht, und ihnen sogar mit Ausschluss gedroht. Innerhalb von zehn Tagen wurden sämtliche Matratzen ausgewechselt.

Und was ist mit der Geringschätzung der chinesischen Gäste? Ich will gar nicht wissen, wie es in der Küche aussah…

Die Küche gehört nicht zu unserem Gebiet. Dafür ist das Lebensmittelinspektorat zuständig.

Zum Glück.

Vielleicht. Den Betrieb habe ich seither drei oder viermal besucht. Es hat wirklich grosse Verbesserungen gegeben. Ich denke, es hat ein Sinneswandel stattgefunden.

Apropos Chinesen. Immer mehr Investoren aus dem Ausland kaufen Schweizer Hotelbetriebe auf. Wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Ja, da entstehen ganz neue Herausforderungen. Oft sprechen die ausländischen Investoren kein Deutsch oder haben keine grosse Ahnung von der Branche. Auch hier braucht es Fingerspitzengefühl. Neulich habe ich das Audit mit einem Russen durchgeführt, auf Englisch. Auf die Frage, ob er Englisch spreche, antwortete er mit «Yes, yes, no problem». Während des Audits beschlich mich allerdings das schale Gefühl, dass er mich nicht wirklich verstand. Also flocht ich eine Frage ein, auf die er ebenfalls mit «yes, yes» antwortete – er verstand also nichts. Deshalb habe ich jetzt immer den neuen Google Translator dabei. Das funktioniert bestens, sogar mit Chinesen oder Indern.

Hat man schon versucht, Sie zu bestechen?

Manchmal fragt man uns, ob das Anbieten eines Kaffees oder eines Gipfeli schon Bestechung sei. So ein Quatsch. Hier gilt der gesunde Menschenverstand. Ganz selten kam es vor – übrigens ausnahmslos im Zusammenhang mit ausländischen Investoren –, dass diffuse Angebote und Bemerkungen gemacht wurden und man die Sterne kaufen wollte, wenn möglich auch gerade zusammen mit einer Aufenthaltsbewilligung. Keine Chance!

Mal eine ganz andere Frage: Wenn Sie privat ins Hotel gehen, können Sie den Aufenthalt überhaupt geniessen, oder sehen Sie überall Mängel?

Eine gewisse Déformation professionelle gibt es schon. Wenn ich ein Hotel betrete, nehme ich unweigerlich gewisse Dinge wahr. Zum Beispiel den Geruch in der Lobby oder auf dem Zimmer. Auch spüre ich gleich die Stimmung im Betrieb, das hat fast schon was Metaphysisches. (lacht)

Den Geruch oder die Stimmung nehmen sicherlich auch «normale» Gäste wahr. Gibt es nicht etwas, das nur Ihnen auffällt?

In gehobenen Hotels gibt es häufig diese Regenwaldduschen. Das ganze Zimmer kann blitzblank sein, aber auf dem Duschkopf liegt garantiert eine dicke Staubschicht. Dazu noch eine Anekdote: Ich war mal zum Audit in einem 5-Sterne-Superior-Betrieb. Eine siebenköpfige Delegation hat mich freundlich empfangen, alles war super vorbereitet. Mit dabei war auch die Gouvernante. Sie verkündete sehr selbstbewusst, dass ich ganz sicher keine Mängel finden würde, egal, wie genau ich hinschaute. Das Haus war tatsächlich top sauber. In der Nasszelle machte ich dann meinen bewährten Griff auf die Regenwalddusche, und siehe da: eine dicke Staubschicht. Die Gouvernante hat sich anschliessend nicht mehr blicken lassen.

Audit und Beratung in einem
Für die Mitglieder von HotellerieSuisse stehen sechs ausgebildete Lead-Auditoren im Einsatz. Sie besuchen regelmässig jeweils zu zweit die klassifizierten Betriebe und führen anhand objektiver Kriterien eine Qualitätskontrolle durch. Die Beratung ist dabei ein zentraler Bestandteil.