Peter Schneider, die Corona-Pandemie hat viele Hoteliers und Gastronominnen im Mark getroffen und sie dazu gezwungen, ihren Betrieb zunächst vorübergehend, mitunter aber auch endgültig zu schliessen und zahlreiche Angestellte zu entlassen. Welche psychischen Belastungen gehen mit einer solchen Entwicklung einher?

Existenzängste, und zwar völlig unvorhersehbare. Anders als in Zeiten, in denen der Besitzer eines Hotels oder Restaurants merkt, dass sich seine wirtschaftliche Lage langsam verschlechtert und er sein Angebot anpassen muss, um neuen Kundenbedürfnissen zu genügen, hat die Pandemie die Leute kalt erwischt. Da konnte sich kein Hotelier zurücklehnen und in Ruhe nach einer Alternative für sein Geschäft suchen. Da waren ganze Existenzen von einem Monat auf den nächsten im Eimer inklusive die damit verbundenen Arbeitsplätze. Und – was besonders bedrückend ist – mit den zunehmenden Konkursen schwinden auch die Möglichkeiten, schnell wieder eine neue Anstellung zu finden, weil es gar nicht mehr genügend Arbeitsplätze im angestammten Bereich gibt.

Peter Schneider, geboren 1957, stammt aus dem westfälischen Dorsten, lebt aber seit fast vierzig Jahren in der Schweiz. Sein Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie absolvierte er sowohl in Münster und Bochum als auch in Zürich. Dort führt er auch seine psychoanalytische Praxis und wohnt mit seiner Frau. Seit 2014 ist er Privatdozent für klinische Psychologie an der Universität Zürich und seit 2017 Gastprofessor für Geschichte und Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse an der International Psychoanalytic University in Berlin. Einem breiten Publikum wurde er bekannt durch seine satirische Sendung «Die andere Presseschau» auf Radio SRF 3.

Was können Angehörige einer solchen Branche tun, der Corona dermassen zusetzt, um psychisch einigermassen heil aus dieser schwierigen Lage herauszukommen?

Es wäre illusionär, sich einzureden: Ja, gut, dann gehe ich halt pleite, aber dafür habe ich jetzt mehr Zeit für meine Enkel oder meine Schmetterlings-Sammlung. Eine solche Erfahrung geht dermassen an die Substanz, dass alle netten Psychotipps nur noch zynisch sind. Wer einen Konkurs erlebt und plötzlich in der Sozialhilfe landet, hat zunächst mal kein psychologisches Problem, er steckt primär in einer handfesten ökonomischen und materiellen Krise. Vielleicht hilft ihm Yoga dabei, nicht total zu verzweifeln. Dann soll er das machen. Vielleicht weiss er aber auch, dass ihm Waldspaziergänge in schwierigen Lebenslagen guttun. Auch das ist etwas wert, aber nicht die Lösung.

Ihre Frau ist über 70, starke Raucherin und gesundheitlich nicht sehr robust. Wie stark ist sie von der Pandemie beeinträchtigt?

Sie hat viel Angst, gar nicht mal um sich, sondern um all ihre Lieben. Unser Sohn fährt jetzt für zwei Wochen, vielleicht auch länger, nach Berlin, und sie befürchtet, dort könne es viel gefährlicher sein als hier. Oder dann stresst es sie total, jeden Mittwoch vor der Bundesrats-Pressekonferenz bangen zu müssen, dass nach den Skigebieten jetzt auch noch alle Klubs und Restaurants sofort wieder geöffnet werden. [IMG 2]

Wie sind Sie selber durch das letzte Jahr gekommen?

Ich habe das Glück, mit meiner psychoanalytischen Praxis in einem ökonomisch gesicherten Bereich tätig zu sein. Dazu bin ich mit 64 in einem Alter, in dem ich sowieso weniger nach aussen orientiert bin und selten an Partys oder Schwingfeste gehe, und habe dank dieser zufälligen Konstellation die Krise und den Lockdown bis jetzt ganz gut überstanden. Wenn der Bundesrat jetzt aber beschliessen würde, dass alle psychotherapeutischen Praxen ohne Kompensationsleistungen geschlossen werden, wäre ich von heute auf morgen total am Ende und würde depressiv. Es ist nicht meine robuste psychische Verfassung, die mich bisher gut durch die Pandemie hat kommen lassen. Es waren glückliche Umstände.

Neue Studien zeigen, dass die Menschen die erste Welle und den ersten Lockdown psychisch sehr viel besser weggesteckt haben als die zweite Auflage. Rund zwanzig Prozent der Befragten klagen jetzt über Depressionen oder gar Suizidgedanken. Die Reaktionen fallen also wesentlich heftiger aus. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Bei der ersten Welle fühlten wir uns doch alle wie Pioniere und hatten dieses fast überschiessende Vertrauen in Daniel Koch und den Bundesrat. Damals habe ich wiederholt gedacht: Da freut man sich doch wieder mal, dass man in einem so wunderbaren Land wie der Schweiz lebt mit einem so gut organisierten Gesundheitswesen. Kein Vergleich mit Deutschland, das so etwas eh nicht gebacken kriegt. Doch mit dem Ende des Lockdown kamen dann die ersten Risse. Die Notlüge, dass Masken nichts nützen, flog auf. Das Militär war überfordert mit der Beschaffung geeigneter Masken und verlochte Millionen von Steuergeldern. Die Lockerungen erfolgten viel zu schnell, weil die SVP und der Gewerbeverband immer aggressiver lobbyierten. Und statt dass wir darauf vertrauen konnten, dass der Bundesrat in den ruhigen Sommermonaten Vorkehrungen für die zu erwartende zweite Welle trifft, rasselten wir regelrecht blauäugig in eine noch grössere Krise und einen zweiten Lockdown. Daraus resultierte eine grosse Enttäuschung, die auf den Leuten lastet und sie teilweise eben auch depressiv macht.

Dann ist es also gemäss Ihrer Einschätzung nicht in erster Linie der Lockdown, der die Leute fertigmacht?

Natürlich ist mit dem Lockdown für Singles und vor allem auch junge Leute die Gefahr von Einsamkeit verbunden, die psychisch schwer zusetzen kann. Aber ich halte es für eine zu simple Psychologisierung, den Lockdown als Trigger aller jetzt auftauchenden Depressionen, Ängste und Suizidgedanken zu bezeichnen. Da vermischen sich viele Faktoren, die aus ganz individuellen Lebensgeschichten stammen.

Werden Sie doch etwas konkreter.

Den einen macht es depressiv, weil zwar eine Homeoffice-Pflicht besteht, sein Arbeitgeber sich aber davor drückt und ihn damit nötigt, jeden Morgen ins nach wie vor überfüllte Tram zu steigen. Der anderen schlägt es aufs Gemüt, dass ihre Kinder immer noch Präsenzunterricht in der Schule haben, was sie befürchten lässt, eines Tages auf diesem Weg doch noch angesteckt zu werden. Und die Dritte, eine Kita-Mitarbeiterin, hat genug davon, nach wie vor an der Corona-Front stehen zu müssen und abgesehen von netten Worten und anfänglichem Applaus weiterhin einen lausigen Lohn zu beziehen. Es sind solche Umstände, die den Leuten zusetzen.

Viele Leute sind genervt, auch zunehmende Gereiztheit ist spürbar. Der «Tages-Anzeiger» titelte vor einigen Tagen kurz und trocken: «Die Schnauze voll», und fragte besorgt: «Halten wir noch durch?» Machen Sie ähnliche Erfahrungen in Ihrem Umfeld?

Diese Genervtheit, die mitunter fast in Verzweiflung umschlägt, kenne ich gut aus meinem Bekanntenkreis. Sie entzündet sich stark an der Politik, die als inkonsistent wahrgenommen wird, aber auch an dem kurzsichtigen Lobbyieren bürgerlicher Kreise und zahlreicher Unternehmer. Erneut wird Gesundheit gegen Wirtschaft ausgespielt. Dabei wünschte man sich von der Politik, dass sie endlich der Einsicht zum Durchbruch verhilft, dass das nicht zwei Dinge sind, zwischen denen man sich entscheiden, sondern an die man gleichermassen denken muss. Es ist doch weder ökonomisch noch gesundheitspolitisch oder epidemiologisch sinnvoll, jetzt alle Hotels und Restaurants wieder zu öffnen und mit den Viren-Mutationen dann direkt in die dritte Welle zu segeln. Diese Quengeleien und Dispute gehen vielen Leuten tatsächlich stark auf den Wecker.

Wäre es denn denkbar, dass die Pandemie, falls sie nicht innert nützlicher Frist eingedämmt wird, zu einer massiven gesellschaftlichen Spaltung führen kann oder die Menschen eines Tages alle Schutzmassnahmen in den Wind schlagen und sich ihr altes schönes Leben gewaltsam zurückholen?

Das weiss ich nicht so genau. Ich kann auch nicht einschätzen, wie man Ausschreitungen wie in den Niederlanden bewerten muss. Vielleicht handelt es sich dabei ja um Menschen, die in «normalen» Zeiten nach einem Fussballmatch alles zusammenschlagen würden. So was wie einen Bürgerkrieg fürchte ich nicht, wobei es ja schon ungemütlich wird, wenn nur schon eine qualifizierte Minderheit aus dem Ruder läuft. Nehmen wir mal an, dass nur noch die Hälfte der Leute im Tram eine Maske trägt. Habe ich dann überhaupt noch Lust, den ÖV zu benutzen? Gibts dann Zoff oder gar Schlägereien? Keine schöne Vorstellung.

Junge Leute fürchten weniger um ihre eigene Gesundheit als um die ihrer Eltern oder Grosseltern. Wie hält es ein junger Mensch aus, wenn er seinen Vater oder seine Grossmutter mit dem Coronavirus infiziert und miterlebt, wie diese schwer erkranken oder gar sterben?

Das ist sicher eine ganz schwierige Erfahrung. Ich bin überzeugt, dass viele diese Sorge umtreibt. Wir sehen unseren Sohn auch viel weniger als sonst. (lacht) Vielleicht nutzt er ja die Chance, sich auf dem Weg mehr von uns abzunabeln, aber das ist nicht alles. Er betont immer wieder, wie sehr ihn die Situation bedrückt. Kommt noch dazu, dass es gerade für jüngere Leute besonders schwierig ist, immer so allein in ihrem Zimmerchen zu sitzen. Oder denken Sie an Studenten im ersten Semester. Nicht genug, dass sie jetzt einen neuen Lebensabschnitt beginnen, müssen sie das alles auch noch per Fernunterricht hinkriegen und – das finde ich besonders hart – es fehlen ihnen all die Kompensationsmöglichkeiten, mit denen man normalerweise strenge Zeiten im Leben bewältigt.

Sie können weder an eine Party gehen noch ins Kino oder sich mal bei einem feinen Essen in einem Restaurant erholen.

Ganz genau. Und das geht uns Älteren ja genauso: Da geht es einem schlecht, und all die Mittel, die dagegen helfen würden, sind gestrichen: keine Oper, kein Theater, keine Reisen. Letztes Jahr haben meine Frau und ich unsere obligaten Ferien in unserer Wohnung in New York gecancelt, die Ersatzreise nach Kroatien fiel ebenfalls ins Wasser, und für dieses Jahr haben wir die USA auch schon wieder gestrichen. Da kann man schon ein bisschen wehmütig werden.

Mit welcher Haltung kommen Menschen wohl am besten durch eine solche Krise? Mit einem gewissen Fatalismus: Es ist, wie es ist?

Denkbar, nur muss man sich diese Haltung auch ökonomisch leisten können. Ich befand mich zu Beginn der Pandemie in der Situation, dass mir die Aufträge über den Kopf zu wachsen drohten, und so erlebte ich das Runterfahren vieler Aktivitäten im Lockdown als echte Erleichterung. Da konnte ich schon cool sagen: Es ist, wie es ist. Aber für die Eventbranche sieht es völlig anders aus. Da kann niemand sagen: ach, wie wohltuend, endlich mal ruhigere Zeiten. Den Musikerinnen und Künstlern geht das ganze Geschäft den Bach runter.

Wann verlieren die Menschen die Hoffnung, die ja dem Vernehmen nach zuletzt stirbt?

Zu Beginn des ersten Lockdown habe ich mal in einem Interview gesagt, so richtig schlimm würde es dann, wenn es eine zweite oder dritte Welle gäbe. Die zweite haben wir jetzt, vor der dritten werden wir ständig gewarnt. Dass wir trotzdem nicht in totale Panik geraten, hängt ganz sicher damit zusammen, dass die Impfung jetzt der grosse Hoffnungsträger ist. Im Moment sieht es ja so aus, als könne sie auch Virusmutationen in Schach halten und sei ähnlich anpassungsfähig wie die jährlichen Grippeimpfungen.

Und wenn die Impfung nicht richtig anschlägt?

Das wär dann echt scheisse. Aber im Moment spricht nichts dafür. Selbst wenn der Impfschutz keine 95 Prozent beträgt, würde er doch für leichtere Krankheitsverläufe sorgen, was ja auch schon viel wert wäre. Und bisher sind ja noch keine Hiobsbotschaften aufgetaucht, also sollten wir auch nicht unnötig schwarzmalen.

Dann lassen Sie uns zum Schluss doch noch darüber reden, ob Sie während der Pandemie auch wichtige, vielleicht sogar schöne Erfahrungen gemacht haben, die Sie nicht missen möchten.

Ich unterrichte seit einigen Jahren auch an einer Universität in Berlin. Und mit dem ersten Lockdown und den damals bestehenden Reiseverboten war ich gezwungen, meine Vorlesungen und Seminare auf Zoom zu geben. Im ersten Moment war ich fast panisch und dachte: Oh Gott, wie soll ich das schaffen? In einem papierlosen Büro finde ich doch nichts und richte ein heilloses Durcheinander an. Inzwischen nehme ich das ganz locker, ja, geniesse es regelrecht, dass die ganze Fliegerei wegfällt und ich unglaublich viel Zeit einspare. Ich habe generell gemerkt, dass viele Sachen online wirklich gut funktionieren. Gespräche zum Beispiel. Da muss niemand durch den Regen, ich kann ungehindert meine Zigarre rauchen. Grossartig und keinen Zack unpersönlicher. Toll finde ich auch, dass ich für eine Veranstaltung nicht mehr mit dem Postauto von irgendwo in der Schweiz tief aufs Land fahren muss, sondern entspannt in der warmen Wohnung eine Onlinelesung abhalten kann.