Urlaub ist das Persönlichste überhaupt, oder? Da darf ich endlich ganz ich selber sein, versichern mir Reisebüros, Tourismuswerbung und fürsorgliche Hoteliers. Ich muss nur das Richtige buchen – individuell, unverwechselbar und einzigartig. So lautet das grosse Versprechen des Fremdenverkehrs. Und in Zeiten der Pandemie?

Dem reiselustigen neuen Virus ist meine Individualität leider egal. Es reproduziert sich in menschlichen Körpern aller Einkommensklassen, Hautfarben und Glaubensrichtungen. Die staatlichen Massnahmen gegen die neue Krankheit gelten ebenfalls für alle, und das zuvor selbstverständliche Reisen wurde zum gefährlichen Risikoverhalten. Wie war das noch mit der selbstbestimmten Mobilität und der Individualität als Werten, auf die wir so stolz sind – und besonders in den Ferien?

Dem reiselustigen neuen Virus ist meine Individualität leider egal.

Fremdenverkehr ist jene Industrie, die von sich behauptet, dass sie keine ist. Die Erholung in der Idylle, die sie verspricht, beruht auf unsichtbar gemachter Arbeit der Servicemitarbeitenden. Konsumenten mit viel Geld und Zeit auf der einen Seite; niedrig entlohnte, arbeitsintensive Dienstleistungen auf der anderen, plus der Zugang zur schönen Landschaft, für die man nichts bezahlt hat – auf dieser Formel beruht seit gut 170 Jahren der Tourismus. Er ist ein Allesfresser, der sich selbst zur Attraktion machen kann. Touristenorte sind «famous for being famous». Nichts finden wir individuell Reisenden so attraktiv wie die Tatsache, dass ein Ort viele andere Reisende anzieht. Solche wie uns.

Wenn viele Touristen kommen, passiert deswegen nichts mehr Neues an einem Ort – ausser mehr Parkplätze, mehr Souvenirläden und noch mehr Bilder von den immer gleichen Wahrzeichen. Dann kam der grosse Stillstand. Ohne Besucher sahen die weltberühmten Attraktionen nicht mehr toll aus, sondern öde – wie billige Kopien ihrer selbst. Und der Overtourism von 2019 war plötzlich die gute alte Zeit. Was haben wir daraus gelernt?

Tourismus ist eine Selbstbestätigungsschleife: Wir sind wir, alles ist wie früher. Und Ferien sind der Bunker, der uns vor Veränderung und Verlust beschützen soll.

Viel. Der Autoverkehr am Gotthard stieg im Sommer 2021 auf noch nie zuvor erreichte Rekordwerte; genauso am Brenner. Die Pandemie, das unerwartete Neue, erzeugt den kollektiven Wunsch nach vertrautem Altem – nach Verreisen in der automobilen Blase, das grosse Wohlstandsprojekt der 1950er- bis 1980er-Jahre; plus Rekordzulassungen bei Wohnmobilen. Wenn etwas bedrohliches Neues erscheint wie das Virus, tun wir sofort dasselbe wie unsere Eltern vor 40 Jahren – und zwar alle gleichzeitig, wir grossen Individualisten.

Retro ist verlockend, weil es Kontrolle verspricht. Retro heisst: Es wird keine Überraschungen geben ausser denen, die ich selber bestellt habe. Tourismus ist eine Selbstbestätigungsschleife: Wir sind wir, alles ist wie früher. Und Ferien sind der Bunker, der uns vor Veränderung und Verlust beschützen soll. Die Frage ist also einfach: Wie innovativ kann eine Branche sein, die auf geträumten Bildern von früher beruht?

Valentin Groebner ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern.