Sie sind nun ein gutes halbes Jahr Direktor von Ticino Turismo. Viel Zeit verwendeten Sie anfänglich darauf, sich ein Bild vom Tourismus im Kanton und seinen Protagonisten zu machen. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?

Tatsächlich habe ich sehr viele Stakeholder getroffen: von Hoteliers über die regionalen Tourismusbüros bis zu Vertretern aus Hochschule und Politik. Aufgefallen ist mir, dass viele Touristiker in unserem Kanton etwas nostalgisch und weinerlich zurückschauen, den Eindruck haben, früher sei alles besser gewesen. Aber es gibt auch solche, die nach vorne schauen und handeln.

Sie sind Tessiner, waren aber 30 Jahre ausserkantonal oder im Ausland tätig. Hand aufs Herz: Haben Sie den Wechsel in die Tourismussparte und zurück ins Tessin in diesen Monaten schon mal bereut?

Nein, ich hatte wirklich Lust zurückzukehren. Und es ist für mich auch aus beruflicher Sicht eine spannende Herausforderung.

Was gefällt Ihnen selbst am besten am Produkt Tessin?

Landschaft und Klima sind sicherlich top, ausserdem haben wir die «Ticinesità», diesen attraktiven Mix aus Schweiz und Italien mit der dazugehörigen Sprache, Gastronomie und Kultur. Insofern haben wir eine strategische Erfolgsposition.

Angelo Trotta (55) ist seit 1. Juli 2019 Direktor der Tessiner Tourismusagentur (ATT), wie Ticino Turismo offiziell heisst. Für ihn ist es eine Rückkehr zu den Ursprüngen: Er stammt aus Locarno und wuchs im Tessin auf. Nach seinem Studium der Betriebswirtschaft an der Universität von St. Gallen mit Schwerpunkt «Sales & Marketing» hatte er verschiedene Führungspositionen bei internationalen Konzernen in der Schweiz, Italien, Frankreich, Brasilien, Deutschland und Spanien inne. Dabei hat er sich auf Marketing und Vertrieb von Luxus- und Konsumgütern spezialisiert; zuletzt war er für Gucci in Madrid tätig.

Trotz dieser Erfolgsposition läuft nicht alles rund.

Natürlich, denn es gibt auch Faktoren, die sich negativ auswirken, darunter der schwache Euro. Für Deutsche und Italiener sind wir eine teure Destination. Deshalb müssen wir ganz auf Qualität setzen.

Fast zwei Drittel aller Logiernächte im Tessin werden von Gästen aus der Deutschschweiz generiert. Ist das nicht ein Klumpenrisiko?

Es ist ein Glück, dass wir diese treuen Gäste aus der Deutschschweiz haben, die über eine hohe Kaufkraft verfügen. Aber ich habe effektiv schon aus Anlass meiner 100-Tage-Bilanz gesagt, dass bei den Quellmärkten unserer Gäste eine grössere Diversifizierung nötig wäre, genauso wie wir zusätzlich jüngere Gäste haben sollten.

Mit welcher Strategie soll diese Diversifizierung gelingen?

Letztlich ist es eine Frage des Marketings. Je mehr wir in einzelne Märkte investieren, desto erfolgreicher werden wir sein. Aber wir stehen in einem harten internationalen Konkurrenzkampf. Für das Ausland sind wir auf die Zusammenarbeit mit Schweiz Tourismus angewiesen. Denn für gewisse Märkte sind wir schlicht zu klein, um alleine Marketing betreiben zu können, etwa die USA.

Gäste im Tessin beklagen neben hohen Preisen häufig auch einen Mangel an Freundlichkeit und Herzlichkeit der Mitarbeitenden in der Tourismusbranche. Welche Erfahrungen machen Sie?

In Bezug auf die Gastfreundschaft war ich überrascht von einigen negativen Rückmeldungen und Umfragen. Das Thema ist schon lange im Gespräch. Wir wollen daher dieses Jahr eine Kampagne für Gastlichkeit durchführen, die sich an die Operatoren unserer Branche richtet, die im direkten Kontakt mit den Gästen stehen. Eine Agentur soll dies übernehmen. Wir werden dafür einen Wettbewerb ausschreiben. Zudem soll eine Sensibilisierungskampagne erfolgen, welche sich an die gesamte Bevölkerung richtet. Aber das ist ein delikates Thema.

In der 100-Tage-Bilanz sprachen Sie von einer «grünen Wende», die der Tourismus machen müsse. Was ist darunter genau zu verstehen?

Wir wollen gerne eine «green destination» werden. Wir werden in Zukunft mit der Universität zusammenarbeiten. Andere Destinationen sind da schon weiter, zum Beispiel Göteborg. Der Nachhaltigkeitsgedanke spielt für touristische Destinationen eine immer wichtigere Rolle.

Aber sind Ihre Einflussmöglichkeiten nicht sehr beschränkt?

Das stimmt. Aber schauen Sie sich einmal an, was beispielsweise Mailand in Sachen Langsamverkehr erreicht hat. Deshalb können und müssen auch wir etwas machen. Bei Umfragen unter unseren Gästen zeigt sich, dass «Verkehr und Lärm» zu den störendsten Faktoren gehören. Darum müssen wir daran arbeiten, der Nachhaltigkeit im Tourismus mehr Bedeutung zu geben. Aber das braucht Zeit.

Ein grosser Erfolg war und ist das Ticino-Ticket mit dem Gratis-ÖV für Gäste, die im Hotel, in der JH oder auf dem Campingplatz übernachten.

Das ist in der Tat ein grosser Erfolg. Aber das Ticino-Ticket hat nicht nur Freunde, sondern auch ein paar Gegner in diesem Kanton. Das beschäftigt uns auch.

Ticino Turismo wurde vor wenigen Tagen in Zürich im Rahmen der Conference Arena mit dem «Swiss MICE Award» 2020 ausgezeichnet. Hat das Tessin im Bereich Kongresstourismus angesichts der beschränkten Infrastruktur noch Potenzial?

Der «Swiss MICE Award» gebührt all den Partnern unserer Region, die in den letzten Jahren investiert und innovative Angebote geschaffen haben. Das Tessin hat bereits jetzt viel zu bieten, und weitere Grossprojekte im MICE-Bereich sind in Planung, weshalb wir hier grosses Potenzial für die Zukunft sehen.

Spielt der Airport Lugano, über dessen Zukunft die Tessiner Stimmbürger Ende April entscheiden, eine Rolle für dieses Segment?

Diverse Studien haben ergeben, dass die Präsenz eines Airports in einer Reichweite von zwei Stunden extrem wichtig für den Kongresstourismus ist. Ein konkurrenzfähiger Flugplatz in Lugano wäre wünschenswert, ist aber nicht unentbehrlich für den dortigen Kongresstourismus. Er würde jedoch für das Image der Destination eine Rolle spielen.