Wie einfach war doch früher die Gastrowelt: Das traditionelle Wirtshaus lebte von der Persönlichkeit und der Leidenschaft der Wirtsleute, von Fachkompetenz in Küche und Service, von Mund-Propaganda und dem guten Namen des Hauses. Die Welt von heute ist komplexer, kurzlebiger und anspruchsvoller: Neben dem operativen Geschäft sehen sich Gastrounternehmen mit immer mehr Managementaufgaben, Vermarktungsthemen und strategischen Fragen konfrontiert.
So sehr sich mancher in romantischer Verklärung das einfache Leben von früher zurückwünscht – die Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft weist in die Gegenrichtung: Megatrends wie die Digitalisierung treiben den Wandel in zunehmendem Tempo an. Eine Innovation wird von der nächsten gejagt. Gegenströmungen wie Entschleunigung und Achtsamkeit wirken dabei wie Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.
Wie muss also ein Gastroprojekt ausgerichtet sein, um den Anforderungen einer komplexen Welt gerecht zu werden? Und wie muss ein Gastrokollektiv strukturiert sein, um den Herausforderungen der konkurrenzintensiven, renditeschwachen Branche, aber auch den Erwartungen auf Gästeseite gewachsen zu sein?
Kontext ist alles
Gemäss Rafael Saupe, Berater und Partner bei Desillusion & Co., ist der erfolgreiche Gastronomiebetrieb von morgen in erster Linie smart in seinen Kontext eingebettet: klar auf die Nutzenden und deren Bedürfnisse am konkreten Standort fokussiert, bewusst auf die plausible Entwicklung dieses Markts ausgerichtet und eng mit den Menschen und Organisationen vor Ort vernetzt.
Das Erfolg versprechende Betriebskonzept für die Zukunft stammt somit nicht aus der stillen Kammer eines kreativen Visionärs. Vielmehr entsteht es am Puls des Markts und basiert auf Beobachtungen, fundierter Analyse von Bevölkerungs- und Beschäftigtenzahlen, auf Fakten zu Gesellschaftsstruktur, Mobilität, Raumplanung und Marktentwicklung. Doch Vorsicht vor Fehlinterpretationen: Der Neubau von 250 Wohnungen am Rande einer Kleinstadt bedeutet primär 250 Küchen zur Selbstversorgung und nicht unbedingt 250 Familien, die sich täglich ausser Haus verpflegen werden.
Datenverarbeitung mag nur bedingt die Passion des Gastropraktikers sein, sie ist aber zentral für eine kontextgerechte Konzeptgestaltung, den Standort-Konzept-Match. So entstehen Projekte mit klarem Fokus und stabilem Fundament. Und realitätsferne Utopien werden rechtzeitig als solche erkannt.
Komplexität minimieren
Neben der kontextuellen Einbettung ist die Reduktion aufs konzeptionell und organisatorisch Wesentliche essenziell: Gemischtwarenlokale mit Zielgruppenfokus «alle» und zehnseitiger Speisekarte sind längst passé. Das Konzept der Zukunft ist bezüglich Angebotsausrichtung und Servicegestaltung, aber auch hinsichtlich Infrastruktur und Administration so simpel wie möglich ausgestaltet. Denn ein scharfes Profil kann nur durch klare Abgrenzung entstehen.
Gut erkennbar ist diese Tendenz im internationalen Kontext: Systemgastronomie wie Individualkonzepte bestechen zunehmend durch einen engen kulinarischen Fokus, durch ein schmales Angebot und gleichzeitig durch eine sehr selbstbewusste Identität – weit entfernt vom Allerweltsprädikat «gutbürgerlich». Auch bei einheimischen Gastrogruppen lassen sich eine deutliche Reduktion aufs Wesentliche in der Konzeptausrichtung und starke Positionierungen erkennen.
Daneben zeigen viele Organisationen Bestrebungen, Miniversionen ihrer etablierten Konzepte zu entwickeln, um auch auf kleineren Flächen an Hochfrequenzlagen ihre Rennerprodukte anbieten zu können – oft mit maximal reduziertem Personaleinsatz. Diese Entwicklungen werden begleitet von einer zunehmend digitalisierten, auf Effizienz ausgerichteten und zentralisierten Unternehmensführung.
Kapital maximieren
Auch in kompakter, effizienter Form bleibt Gastronomie kostenintensiv: Planung, Realisierung und Etablierung eines Lokals verlangen nach Kapital in grossem Umfang. Wo bereits beim Bau die Reserven aufgebraucht sind, fehlt die nötige Finanzkraft in der herausfordernden Startphase eines Betriebs.
Als ebenso wichtig wie das finanzielle Kapital erachtet Rafael Saupe – mit Verweis auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu – das soziale Kapital einer Gastroorganisation: ein heterogenes Team aus Fach- und Managementtalenten, aber auch eine diverse Community aus Partnerinnen, Lieferanten, Ambassadorinnen und Gästen. Der erfolgreiche Gastrobetrieb lebt dank einer weit vernetzten, aktiven Community. Erst sie macht aus einem Lokal einen Begegnungsraum, aus einem Nicht-Ort einen Ort, aus reiner Ausser-Haus-Verpflegung ein soziales Erlebnis.
Zusammenfassend gilt gemäss Rafael Saupe: Gastroprojekte mit konsequentem Fokus aufs relevante Marktumfeld und kontextgerechter Konzeptausrichtung, mit möglichst komplexitätsreduzierter Struktur sowie einem balancierten Mix aus finanziellem und sozialem Kapital bringen entscheidende Faktoren für den unternehmerischen Erfolg mit. Langfristig schaffen sich Gastroorganisationen durch diese Herangehensweise die schlagenden Argumente gegenüber Investorinnen, Vermietern oder Auftraggebenden, um weitere Finanzkraft, beste Standorte oder Bewirtschaftungsaufträge zu erlangen.
Dieser Fachartikel ist in Zusammenarbeit mit Desillusion & Co. entstanden.