Mit Besucherdaten ist oder war der Schweizer Incoming-Tourismus bislang nicht gerade reich gesegnet. Ein sehr unbefriedigender Zustand. Denn was wir nicht messen können, können wir nicht verbessern. Einen grossen Schritt nach vorne verspricht nun das Tool «My Tourobs», das verschiedene bestehende Datenquellen mit den sogenannten «Mobility Insights»-Daten der Swisscom kombiniert. ETT nutzt dieses Angebot seit dem Frühjahr 2022. Da das Produkt noch in der Entwicklungsphase steckt, sind noch einige Feinabstimmungen nötig. Erste Erkenntnisse sind jedoch bereits jetzt sehr aufschlussreich und bringen einen konkreten Nutzen.
Je nach Bedarf – und Budget – lassen sich unterschiedlich viele hilfreiche Statistiken ziehen und in einem Dashboard kombiniert anzeigen. Die Daten stammen von der Beherbergungsstatistik (Hesta), von Airbnb-Objekten (Air Dna) oder Google Analytics. Optional können Online-Buchungen bis hin zu Bädereintritten und andere destinationsinterne Daten ins Dashboard integriert werden. Mit diesen Daten können wir bereits einiges anfangen. Den entscheidenden Unterschied machen jedoch die Handy-Bewegungsdaten der Swisscom. Mit 6 Millionen SIM-Karten lassen sich recht weitreichende Aussagen machen. Der unbekannte Rest wird anhand des Swisscom-Marktanteils pro Region hochgerechnet.
Erstmals kennen wir die Zahl der Tagesgäste
Um die Daten sinnvoll nutzen zu können, mussten wir unsere Destination in verschiedene Zonen einteilen. Wir haben uns zunächst für vier entschieden (Gesamt, Bergbahnen Brunni, Titlis Bergbahnen und Dorfzentrum), können dies aber anpassen. Als Tagesgäste gelten somit alle Personen, die sich länger als 30 Minuten in der Gesamtzone aufgehalten haben. Pendler, Saisoniers und Einheimische werden über Algorithmen und die Herkunft der SIM-Karte herausgefiltert. Das Aufkommen an Tagesgästen können wir so zum ersten Mal überhaupt abschätzen und die Herkunft nach Nation, Kantonen und sogar nach Wohnort aufschlüsseln. Im Gegensatz zu anderen Destinationen ist unsere Topografie zudem recht geeignet für diese Erhebung, da Engelberg am Ende eines Tals liegt und es keinen Durchreiseverkehr gibt.
Wer zwischen 0 und 5 Uhr bei uns ist, gilt als Übernachtungsgast. Da die Logierzahlen der Hotels und der vermieteten Ferienwohnungen bekannt sind, können wir damit – ebenfalls erstmals – eine gute Schätzung zur Eigennutzung der Zweitwohnungen aufstellen. Für unsere Destination ist dies ein echter Mehrwert, denn die ca. 10’000 Betten in Ferien- und Zweitwohnungen sind bei uns ein massiver Pfeiler und für die Wertschöpfung extrem relevant.
Fundierte Daten statt Stammtisch-Argumente
Die gesamte Performance an Tages- und Übernachtungsgästen lässt sich rückwirkend auf zwei Jahre für eine beliebige Periode auswerten – für jeden einzelnen Tag. Für unsere Marketingstrategie ist dies natürlich eine sehr gute Grundlage. Wann braucht es welche Massnahmen? In welchen Märkten und Regionen? Zudem sind die Daten eine belastbare Basis für Diskussionen – etwa, wenn es darum geht, ob Besucher der Titlis Bergbahnen überhaupt ins Dorf kommen und das Angebot des Gewerbes dort nutzen. Jetzt haben wir Daten als Grundlage für die Diskussion und können dort Massnahmen definieren, wo tatsächlich Handlungsbedarf besteht.
[IMG 2-5]
Unschärfen gibt es vor allem international
Natürlich ist die Statistik nicht frei von Unschärfen. Eine Unsicherheit ist meines Erachtens zum Beispiel die Länderherkunft der ausländischen Besucher. Viele Fernreisende – etwa aus Indien – kaufen sich bei ihrer Ankunft eine europäische oder eine Schweizer SIM-Card. Dann sind die Zahlen natürlich nicht mehr 100% korrekt. Auch die HESTA-Daten sind nicht über alle Zweifel erhaben, da manchmal der Wohnort und manchmal die Nationalität im Pass erfasst wird. Andere Statistiken zählen die Passagiere eines Reisecars aus Grossbritannien automatisch als Briten, auch wenn diese eventuell aus Asien kommen. Und noch ein anderer Aspekt: Kinder erscheinen nicht in die Swisscom-Statistik, solange sie kein Handy besitzen.
Der gläserne Besucher?
In Sachen Datensicherheit bewegen wir uns – auch wenn es zunächst nach dem gläsernen Besucher aussieht – in einem unbedenklichen Bereich. So wird zum Beispiel die Anzahl der Personen in einem Beobachtungsgebiet nur dann bekannt gegeben, wenn dort mehr als 20 Personen gleichzeitig erkannt werden. Die Daten sind auf Schweizer Servern gespeichert und zudem garantiert uns die Swisscom, im Rahmen des nationalen Datenschutz- und Telekommunikationsgesetzes, nur stark anonymisierte und aggregierte Daten ohne persönliche Kennungen zu nutzen. Rückschlüsse auf einzelne Personen sind so ausgeschlossen.
Erstes Fazit aus der Praxis
Dank der rückblickenden Daten können wir bei ETT nun Auswertungen erstellen, die früher nur mit grossem Aufwand oder gar nicht möglich gewesen wären. Jetzt lassen sich einzelne Perioden mit wenigen Klicks herausfiltern, auch der Vergleich mit den HESTA-Daten ist sehr convenient aufbereitet. Für unseren Geschäftsbericht konnten wir einen Teil der Daten bereits intensiv nutzen – mit weiteren Details sammeln wir noch weiter Erfahrung und möchten sie plausibilisieren, bevor wir sie veröffentlichen oder als Grundlage für Entscheidungen hernehmen. Ebenfalls erfreulich: Die Statistik zu den Tagesgästen im Jahresverlauf wird uns bei unserer Strategie für Engelberg als Ganzjahresdestination enorm helfen.
Ein Tipp: Wichtig ist bei der Analyse, eine konkrete Fragestellung zu haben und sich dann in die Daten zu vertiefen. Sollen wir in Zürich eine Kampagne machen? Oder eher in Bern? Und wann?
Gut kalkulierbare Kosten
Unser aller Budgets sind nicht grenzenlos. Darum ist es sicher eine gute Nachricht, dass sich die Kosten für MyTourobs bei allen drei verfügbaren Paketen pro Jahr im dreistelligen Bereich halten. Auch die Weiterentwicklung und die Anpassung des Dashbords ist relativ günstig. Werden die Mobility Insights der Swisscom dazu gebucht, sind die Pakete in einem vier- bis fünfstelligen Betrag pro Jahr angesiedelt. Doch ETT hat mehrere Unterstützer bei der Finanzierung. Die Gemeinde, der Hotelierverein und die Titlis Bergbahnen beteiligen sich und nutzen die Daten ebenfalls. Für die Gemeinde sind diese beispielsweise für verkehrspolitische Themen äusserst nützlich.
Noch mehr Voraussagen sind das Ziel
Zukunftsmusik ist momentan noch die Prognostik – die Königsdisziplin. Anhand der Daten Voraussagen treffen zu können, wäre der nächste Schritt. Wenn nicht Unwägbarkeiten wie eine Pandemie alles durcheinanderwirbeln, könnten wir etwa Busfahrpläne anpassen, die Personalplanung optimieren oder gezielte Marketingaktionen auf bestimmte Zeiträume ansetzen. Vielversprechend tönt zum Beispiel, dass in naher Zukunft auch Wetterdaten als erklärender Faktor für Besucherbewegungen miteinbezogen werden oder anonyme Daten des Zahlungsverkehrs über Kreditkarten das Dashboard ergänzen könnten. Es gibt noch viel Potenzial. Aber bereits die jetzigen Möglichkeiten sind ein grosser Schritt, der uns die Arbeit leichter macht. Big Data ist im Tourismus angekommen.