Freidorf mag vor wenigen Tagen noch ein unbekannter Ort in den sanften Hügelzügen zwischen
St. Gallen und Romanshorn gewesen sein. Seit Silvio Germann Koch des Jahres des Guide Gault Millau 2024 geworden ist, ploppt er auf der Genusskarte jedes Gourmets auf. Im Restaurant Mammertsberg verwöhnt der Spitzenkoch seine Gäste seit einem Jahr auf 18-Punkte-Niveau. Der Guide Michelin zeichnete ihn am vergangenen Montag auf Anhieb mit zwei Sternen aus.
Fachwerk, Türmchen und Erker verleihen dem «Mammertsberg» Landschlosscharme. Daneben der dezente Bruchsteinkubus für Banketträume aus dem Jahr 2011. Im Verbindungsbau schlägt das Herz, dort ist die Küche. Hinter Glas schneiden acht junge Köchinnen und Köche Kräuter, zerstossen Eis, braten, kochen, pürieren und führen zuletzt mit feiner Hand die Pinzette. Die Gäste empfängt Silvio Germann an warmen Sonnentagen im Restaurantgarten unter Boskopbäumen mit Sicht auf den Bodensee.
Der Gast erhält ein feuchtes Tuch, um sich die Hände zu reinigen – die ersten fünf Gerichte werden von Hand gegessen. Germanns Genussreise beginnt mit einer hauchdünnen Tartelette mit Tomate und Kimchi, am Tisch zubereiteter Kohlrabirolle mit knusprigem Speck und Buchweizen sowie einer lauwarmen Waffel mit Überraschungseffekt – die delikate Trüffelcreme erwartet man nicht. Danach spaziert man ins über 100-jährige Haus, vorbei an der Cigar-Lounge und die geschwungene Eichenholztreppe hoch ins sanft renovierte Restaurant. Der erste Blick fällt auf das rote Buffet in der Mitte des Raums und gleitet dann über eine erdfarbene Eleganz aus dem Designstudio Space Copenhagen, welches auch das «Noma» in Kopenhagen ausgestattet hat. Auf dem Tisch liegen – sehr schlicht – eine einzelne Gabel und ein Löffel neben der Menükarte. Letztere entpuppt sich als Büchlein, eine haptische und grafische Augenweide mit Einblicken in die «Mammertsberg»-Geschichte und in Germanns Küchenphilosophie: «Traditionsbewusst und in der Region verwurzelt, dabei stets neugierig, weltoffen und erfinderisch» – das haben bereits die ersten Häppchen gezeigt.
Ich mag es, Gäste satt und glücklich zu machen
Silvio Germann, Koch des Jahres 2024 Guide Gault Millau
Leicht und frisch durch Säure
Beim vereinbarten Gesprächstermin lässt Chef Germann auf sich warten. Er sei auf der Wasserbüffelfarm im Nachbardorf Muolen gewesen, entschuldigt er sich lachend und reicht die Hand zum Gruss. Aufgewachsen ist Germann im luzernischen Grosswangen. Durch seinen Grossvater reichen seine Wurzeln bis ins Wasserbüffeldorf, wo Germann auch heimatberechtigt ist.
Der 34-Jährige erzählt, dass er den Landwirtschaftsbetrieb besucht habe, um bei der Produzentenfamilie etwas über die Büffelmilch zu erfahren. «Sie haben von den Tieren und ihren Produkten erzählt, und ich lerne gerne.» Für die Herbstkarte experimentiert er mit einem leichten Büffelmilchmousse, das er mit Malz und Zwetschgen servieren wird. Eine Kombination aus leichten und charaktervollen Lebensmitteln, die eine ausgewogene Säure betonen.
Die Frische, die Säure und das Herbe machen Germanns Handschrift denn auch aus, darin ist er seit seiner Zeit im «Igniv» konsequenter geworden. Er setzt neben den klassischen Zitrussäuren gerne auch jene von unreifen Äpfeln ein. Die Säure führt zu anregenden Speisen, die nicht aufliegen. Der Joghurtschaum beispielsweise wird mit einem Löffelchen Zwiebeleis, dazu einen Holundersud, fast wie ein kleines Süppchen. Erfrischend bereitet es den Magen auf das vor, was kommt.
Silvio Germann probiert jedes Gericht, bevor es die Küche verlässt. Seine Küche ist auch eine der Gegensätze. Wie kleine Perlen finden sich zwischen den belebenden Gängen auch wohlig cremige. Unter Nussschaum entdeckt man geröstete Kastaniengnocchi und Nussbutter. Manche Gänge kommen ganz ohne Garnitur aus, bei anderen verleihen Dill-, Korn- und andere Blüten eine ästhetisch-verspielte Optik und hinterlassen im Gaumen eine herb-süsse Note.
Spitzenkoch und Gastgeber
Im «Mammertsberg» wirkt Silvio Germann erst seit vergangenem Herbst. Gemeinsam mit seinem Lehrer und Förderer Andreas Caminada pachtet er das Restaurant. Er ist nun nicht nur Spitzenkoch, sondern auch Patron. Er kümmert sich um die Gäste, die Mitarbeitenden, das Haus und den Umschwung; neue Aufgaben, die ihn fordern. Fast Landschaftsgärtner geworden, haben die Gartenarbeiten für ihn einen besonderen Reiz und erden ihn. Er wendet die vom Vater erlernten Fertigkeiten, der
30 Jahre lang Schulhausabwart war, an. Das Flair für die Gastfreundschaft hat er von der Mutter geerbt, die oft Besuch am Familientisch bewirtete. Germann: «Ich mag es, Gäste satt und glücklich zu machen.»
Das fachliche Handwerk allerdings eignete er sich im mit 14 Gault-Millau-Punkten dekorierten Restaurant Sempacherhof in Sempach an. Er stand einzig mit dem Patron und einem weiteren Lernenden am Herd. An der Seite von 19-Punkte-Koch Caminada baute Germann später das erste Restaurant der Igniv-Familie auf und entwickelte ein Sharing-Konzept auf Gourmetniveau, das zuletzt
mit zwei Michelin-Sternen und18 Punkten ausgezeichnet wurde.
Sein Ziel für die kommenden Jahre sind ein fixes Team und eine konstante Auslastung – da wird die Auszeichnung «Koch des Jahres» unterstützend wirken.