André Lüthi, wie oft werden Sie von Veranstaltern und Medien gebeten, sich zum weltweiten Tourismusboom zu äussern?
Oft. In diesem Jahr sehr oft.
Ein gelernter Bäcker, der als Reiseanbieter
grosse Brötchen bäckt
André Lüthi, 58, wuchs im Kanton Freiburg auf und absolvierte eine Lehre als Bäcker/Konditor. 1982 unternahm er seine erste grosse Reise in die USA, wurde zum Weltenbummler und stieg 1987 beim alternativen Reiseunternehmen Globetrotter ein. Heute ist Lüthi VR-Präsident und CEO der Holding Globetrotter Group, in der Schweizer Reisebranche mittlerweile die Nummer vier. André Lüthi ist ausserdem Vorstandsmitglied des Schweizer Reiseverbandes und sitzt im Verwaltungsrat von «BE! Tourismus». Seit 2016 ist der innovative Unternehmer und gefragte Keynote-Speaker auch Mitglied der Milestone-Jury. Lüthi ist Vater einer Tochter und eines Sohnes.
Hätten Sie sich je vorgestellt, dass Overtourism zu einem derart dominierenden Thema wird?
Als ich mit 20 Jahren zu reisen begann, habe ich mir nicht überlegt, wie es in dreissig Jahren sein wird. Ich gehörte einfach zu den Glücklichen, die das Privileg genossen, die Welt für sich entdecken zu können. Wenn ich nun sehe, was beim Machu Picchu und an gewissen anderen Hotspots abgeht, und wenn ich weiss, dass jährlich 50 Millionen Inder und Chinesen in die Mittelklasse aufsteigen und sich das Reisen nun leisten können, gibt das schon zu denken.
Reisen macht keine Freude mehr?
Reisen macht unglaublich viel Freude. Mir scheint, im Moment geht eine allgemeine Depression um. Klimawandel, Overtourism – ja, das sind riesige Herausforderungen. Aber für mich ist das Glas immer noch halb voll. Und dass nun auch Inder und Chinesen reisen wollen, ist schliesslich ihr gutes Recht.
Könnte sich Reiseverhalten ändern?
Das tut es bereits. Wir stellen fest, dass das individuelle Reisen weltweit zunimmt, während Gruppenreisen zurückgehen. Auch Chinesen und Indern wird es in der Masse irgendwann zu viel. Und vielleicht entdecken sie ja wieder ihr eigenes Land.
«Fliege ich mit einem besseren Gewissen nach New York, weil in Äthiopien eine Familie mit Solarenergie kocht?»
Veränderungen können auch durch Massnahmen herbeigeführt werden.
Richtig. Geht man in ein Museum, zahlt man Eintritt. Das ist auf der ganzen Welt so. Will man ein Konzert oder ein Fussballspiel besuchen, kauft man ein Ticket, und wenn es keine Plätze mehr gibt, wird das akzeptiert. Ausverkauft ist ausverkauft. So ist es auch mit Dubrovnik, Venedig und anderen Orten. Wir sind vielerorts an einem Punkt angelangt, wo es nur noch über Kontingente geht, über maximale Besucherzahlen und höhere Preise. Wir werden an den touristischen Hotspots eine Regulation herbeiführen müssen, die allen etwas bringt. Dem Gast, der wieder ein werthaltiges Erlebnis hat, wie auch der einheimischen Bevölkerung, die wieder freier atmen kann.[IMG 2]
Wie könnte das konkret aussehen?
Ich bin zum Beispiel dafür, dass man beschliesst, pro Tag nur noch 2500 Leute auf den Machu Picchu zu lassen. Aber diese 2500 zahlen je 40 Dollar Eintritt. Ich weiss, es ist nicht einfach, das durchzusetzen. Hierfür braucht es mutige Entscheide von Behörden und Veranstaltern.
Und von Touristikern.
Richtig. Gerade in der Schweiz gibt es noch immer viele Touristiker, die der Meinung sind, Overtourism sei für unser Land noch kein Thema. Da wird zu oft verdrängt und schöngeredet. Ja, wir ha-ben in Luzern bislang nicht Zustände wie in Dubrovnik. Aber das rollt auf uns zu, und deshalb sollten wir schon jetzt über Massnahmen zumindest diskutieren.
Über welche Massnahmen an Schweizer Hotspots sollten wir nachdenken?
In vielen Fällen ist eine Kontingentierung das Klügste. In Luzern zum Beispiel sollte man die Anzahl Cars, die pro Tag in die Stadt hineinfahren, beschränken. Das ist mit Kosten verbunden, die letztendlich der Gast zahlt. Aber die Schweiz darf ihn auch etwas kosten. Wir haben so grosse Chancen, uns klar als Qualitätsdestination zu positionieren. Nicht immer mehr Gäste, aber gleich viel Umsatz, das muss das Ziel sein. Aber das verlangt Mut. Den Mut, hinzustehen und zu sagen: Ja, wir kosten mehr. Weil wir für Qualität stehen und diese auch bieten.
«Ausverkauft ist ausverkauft. So ist es auch mit Dubrovnik, Venedig und vielen anderen Orten.»
Mut bewiesen Sie selbst, als Sie als Reiseanbieter forderten, das Fliegen müsse wieder teurer werden.
Ja, Fliegen ist viel zu günstig. Aber ich weiss, dass meine Kritik daran nichts ändern wird. Wenn man Airbusse à gogo bestellt, die dann nicht ausgelastet sind, kann man nur noch über den Markt, also den Preis reagieren.
[IMG 3]Ist es nicht fast schon ein Menschenrecht, dass auch Menschen mit wenig Geld in der Welt herumkommen dürfen?
Das lasse ich nicht gelten. Ist es ein Menschenrecht, für dreissig Franken nach London zu fliegen? Zu einem Betrag, der in keiner Relation zu dem steht, was es wert ist? Oder nehmen wir das Wohnen. Es gibt Menschen, die leben in Mietwohnungen, und andere in Villen: Es können sich nicht alle alles leisten. Was wir verlernt haben, ist der Wille zum Sparen. Ich habe früher Geld beiseitegelegt, und wenn genügend zusammenkam, so dass ich reisen konnte, habe ich mich wie ein kleines Kind gefreut. Heute fliegt man mal schnell nach Riga oder nach Lissabon – das Reisen hat gar keinen Wert mehr. Es ist zu einem ganz gewöhnlichen Konsumgut geworden. So wie man auf die Schnelle einen Cappuccino trinkt, fliegt man schnell nach London.
Zur Fliegerei-Debatte gehört zwingend das Thema Klimaschutz. Was halten Sie von einer CO2- oder Klimaabgabe auf Flugtickets?
Klar, Fliegen ist ein Teil des Klimaproblems. Aber das Flug-Bashing ist übertrieben. Zuerst einmal sollten wir unser generelles Konsumverhalten ändern, und es gäbe tausend Beispiele. Was das Fliegen betrifft, könnten wir weniger, dafür längere Reisen unternehmen. Vier Wochen statt sieben Kurztrips.
Oder wir verschaffen uns ein reines Gewissen, indem wir für unsere «Sünden» einen Ablass zahlen.
Wenn ich beim Fliegen ein schlechtes Gewissen habe und es über «myclimate» kompensiere, stellt sich doch die Frage: Was passiert mit diesen Geldern? Fliege ich jetzt mit einem besseren Gewissen nach New York, weil in Äthiopien eine Familie mit Solarstrom kocht? Da ist mir die Wirkung doch viel zu wenig effizient und nachhaltig. Ja, ich bin für eine Ticketsteuer. Aber meiner Meinung nach sollte dieses Geld voll und ganz in die Forschung und in die Entwicklung neuer Technologien fliessen. Und ich bin überzeugt, wir finden neue Wege, um die Mobilität und die Industrie noch viel klimaschonender zu gestalten. Die Forschung hat so unglaublich viel Potenzial.
«Ich bin überzeugt, wir finden neue Wege, um die Mobilität noch viel klimaschonender zu gestalten.»
Und dann gibt es noch die Segnungen der Digitalisierung wie etwa VR-Brillen, mit denen man auf dem Sofa sitzend ferne Städte durchstreifen oder Museen besuchen kann. Was sagt der Reiseanbieter dazu?
Auch wenn ich noch der Bäcker wäre, der ich ja anfänglich war, wäre das für mich Habakuk. Der Mensch will die Welt entdecken. Seit es uns gibt, wollen wir wissen, was sich hinter dem nächsten Hügel befindet. Reisen ist auch riechen, schmecken, ist die Begegnung mit Menschen, die man vielleicht nicht versteht, aber denen man in die Augen schaut.
Mir scheint, Reisende schauen eher auf ihr Handy.
Der Dialog leidet unter der Digitalisierung ganz allgemein. Aber es geht ja nicht darum, die neuen Technologien zu verteufeln. Sie haben uns auch grosse Freiheiten gebracht. Wenn es jetzt noch gelingt, die alten Werte und Kulturen mit der digitalen Welt zu verschmelzen, hätten wir fast schon einen Idealzustand erreicht.
Milestone-Jurymitglied André Lüthi zum diesjährigen Wettbewerb
Sie sind seit vier Jahren in der Milestone-Jury. Wie hat sich die Innovationskraft der Branche in diesem Zeitraum entwickelt? [IMG 4]
Leider nicht allzu stark. Jedes Jahr landen in etwa gleich viele Projekte auf dem Jurytisch, bei denen wir wirklich von Innovation sprechen können. Ich glaube, es gibt in dieser Branche tolle Innovationen, aber aus irgendeinem Grund bewerben sich viele nicht für den Milestone. Schade, denn der Preis und die Idee dahinter sind eine grosse Chance.
Wie beurteilen Sie die Qualität des Milestone-Jahrgangs 2019?
Wie jedes Jahr gibt es auch in diesem Jahr grosse Unterschiede. Erfreulich ist, dass dieses Jahr mehr spannende Projekte im digitalen Kontext stehen.
Womit tat sich die Jury in diesem Jahr schwer?
Wir taten uns nicht schwer, doch die zum Teil hohe Komplexität der digitalen Projekte forderten uns. Sind sie nachhaltig? Sind es Nachahmer? Ist der wirtschaftliche Erfolg da? Fragen, die nicht immer einfach zu beantworten sind.
Auf welche Innovation im Tourismus warten Sie noch immer?
Auf die Idee, die so gut ist, dass die Mund-zu-Mund Weiterempfehlung jeden Marketing-Franken spart.
Zu den nominierten Projekte für den Milestone 2019
Gery Nievergelt