Nicolo Paganini, Sie waren in Ihren Corona-Sommerferien drei Wochen im Engadin. Von da aus haben Sie bestimmt auch einen Abstecher in Ihre Urheimat Puschlav gemacht?
Selbstverständlich, mehrmals. Ich wandere und bike dort gerne. Einmal habe ich mich in Pontresina ohne Ziel in den Bernina-Express gesetzt und bin spontan bis Tirano gefahren.
Sie haben noch im März – kurz nach Beginn der Corona-Krise – das Amt als Präsident des Schweizer Tourismus-Verbands übernommen. Wie geordnet verlief die Amtsübergabe?
Die Übergabe eines Präsidiums ist zum Glück nicht so kompliziert. Die Dossiers sind in den Händen der Geschäftsstelle. In normalen Zeiten hätte ich mich allerdings im Vorfeld mit meinem Amtsvorgänger zusammengesetzt, was aufgrund der aussergewöhnlichen Situation nicht möglich war. Stattdessen wurde ich ins kalte Wasser geworfen: Meine Wahl erfolgte an einem Freitagnachmittag um 15 Uhr, zwei Stunden später empfing ich bereits zum Krisenkonferenz-Call der Tourismus-Allianz. Es ging Schlag auf Schlag.
Nicolo Paganini (54) wurde Ende März zum Präsidenten des Schweizer Tourismus-Verbands (STV) und Nachfolger des abtretenden Dominique de Buman gewählt. Zuvor hatte er neun Jahre lang als Direktor der Genossenschaft Olma Messen St. Gallen geamtet. Seit März 2018 politisiert der gebürtige Thurgauer mit Wurzeln im Puschlav für die St. Galler CVP im Nationalrat. Die Härtefallregelung für Unternehmen der Event- und Reisebranche, die sich aktuell in der Vernehmlassung befindet, geht auf einen Einzelantrag von Paganini zurück. Der studierte Jurist wohnt in Abtwil SG, ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder aus erster Ehe.
Sie kritisierten in der Vergangenheit das fehlende Bewusstsein in einigen Teilen der Schweizer Bevölkerung, auch in einer Tourismusdestination zu leben. Hat die Krise dieses Bewusstsein geschärft?
Ich denke schon. Vielen war bis anhin nicht bewusst, dass der Tourismus aus einer ganzen Wertschöpfungskette besteht. Nur wenn die ganze Kette funktioniert, kommt es zum unvergesslichen Gästeerlebnis. In der gesamten Schweiz hängen vom Tourismus Hunderttausende von Jobs ab und Milliarden Franken an Wertschöpfung. Die Krise hat dies vielen erstmals vor Augen geführt.
Kritisiert haben Sie ausserdem die Kleinräumigkeit der Schweiz bei den touristischen Destinationen sowie das damit verbundene Kirchturmdenken. Kann die Krise vielleicht auch hier als Katalysator dienen?
Es ist noch zu früh, um diese Frage zu beantworten. Der Patient liegt sozusagen noch auf der Intensivstation. Mit dem Wegbleiben der Gäste fehlt dem Tourismus allerdings das Geld. Das kann in einer nächsten Phase durchaus dazu führen, dass Strukturen hinterfragt werden. Das wäre gut, denn die politischen Strukturen, die den Destinationsgrenzen oft zugrunde liegen, spielen für den Gast keine Rolle. Da gibt es sicher noch Potenzial für eine bessere Zusammenarbeit.
Wir stecken mitten in der zweiten Welle. Warum ist die Schweiz so stark betroffen?
Ganz genau weiss dies niemand, auch nicht die Epidemiologen. Fest steht: Wir hatten im Sommer gewisse Freiheiten, die andere im Ausland nicht hatten. Bei den Veranstaltungen beispielsweise sind wir mit den Lockerungen relativ weit gegangen. Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass sich die Menschen nicht in erster Linie bei Veranstaltungen, sondern im privaten Bereich anstecken. Und doch hat die Lockerung bei den Veranstaltungen möglicherweise dazu beigetragen, dass wir das Gefühl bekamen, das Gröbste sei vielleicht bereits vorbei und dass wir es mit den Vorsichtsmassnahmen im Privaten nicht mehr so genau nehmen müssten.
Liegt es vielleicht auch an einer unzulänglichen Teststrategie?
Ich habe schon das Gefühl, dass die Teststrategie und das Contact-Tracing nicht so funktionieren, wie das in einem Land wie der Schweiz der Fall sein müsste. Die Corona-App des Bundes finde ich eigentlich eine gute Sache. Aber ich kenne Leute, die Covid-19 hatten, aber nie oder erst sehr spät einen Code für die Benachrichtigung ihrer Kontakte erhielten. Das Ganze funktioniert noch nicht so, wie es sollte. [IMG 2]
Hat die Politik im Frühling und Sommer zu sehr auf die Forderungen aus der Wirtschaft gehört?
Auch das ist schwierig zu beurteilen. Dass die Zahlen im Oktober so stark gestiegen sind, hat selbst die Epidemiologen überrascht.
Die Politik hat weitere Unterstützungsmassnahmen beschlossen. Eine davon geht auf Sie zurück: die Härtefallregelung. Sie soll nun am 1. Dezember in Kraft treten. Sind Sie zufrieden?
Nun, mein Antrag wurde vom Parlament ja noch verändert. Stand jetzt, werden die Kantone 50 Prozent der Kosten der Härtefallunterstützung übernehmen müssen. Für den Einbezug der Kantone gibt es gute Gründe, aber es bedeutet auch langwierigere Prozesse bis zur Auszahlung. Der Vorschlag des Bundesrats kann vom Mechanismus her funktionieren, aber der Betrag ist letztendlich viel zu gering.
Je 200 Millionen Franken von Bund und Kantonen.
400 Millionen klingt nach viel, aber denken Sie an den Frühling, da ging es um Milliarden! Die Summe von 400 Millionen Franken widerspiegelt zudem die Situation vor rund einem Monat. Jetzt, mitten in der zweiten Welle, sollte man konsequenterweise mehr Mittel zur Verfügung stellen.
Der Präsident von Zürich Tourismus, Guglielmo Brentel, schlägt in eine ähnliche Kerbe. Demnach könnten Hotels ihren Betrieb dank der Härtefallhilfe lediglich um wenige Tage oder Wochen länger aufrechterhalten.
Genau deshalb darf das Geld nicht nach dem Giesskannenprinzip verteilt werden, sondern muss jeder einzelne Fall geprüft werden. Nicht jedes Hotel wird unter dem Titel eines Härtefalls Geld beanspruchen können. Jeder Betrieb muss einen Businessplan vorlegen und zeigen können, dass es für ihn ohne Hilfe nicht mehr weitergeht, obwohl er vor der Krise solide aufgestellt war. Aber selbst wenn nur die Hälfte aller Hotels Anspruch erhebt, sind 400 Millionen noch zu wenig.
Wie viel Unterstützungsmittel brauchte es stattdessen?
Diese Frage beschäftigt uns gerade. Sie hängt natürlich auch davon ab, wie lange die Krise andauert. Das kann im Moment niemand voraussagen. HotellerieSuisse hat eine Forderung von 500 Millionen Franken platziert. Die Vernehmlassung läuft bis am 13. November.
Kann man davon ausgehen, dass ein vor der Krise gut aufgestelltes Unternehmen auch nach der Krise profitabel sein wird? Und sollte man diese Frage bei der Verteilung von Hilfsgeldern nicht miteinbeziehen?
Ich verstehe Ihre Frage absolut. Natürlich besteht die Gefahr, dass der natürliche Strukturwandel durch die staatlichen Unterstützungsmassnahmen vorerst nicht stattfindet, was eine potenzielle Schwächung in der Zukunft bedeutet. Aber wie wollen Sie jemandem, der mit guten Zahlen in die Krise gestartet ist, in die Augen schauen und erklären, dass er möglicherweise Opfer des natürlichen Strukturwandels geworden wäre und deshalb kein Anrecht auf Unterstützung hat? Das können Sie nicht machen.
Also lieber «zu viel» helfen als zu wenig.
Das Risiko der Strukturerhaltung besteht, aber wir können deswegen nicht niemandem helfen. Die Corona-Krise ist nicht die Schuld der Betriebe. Es ist Aufgabe unserer Gesellschaft, sie zu unterstützen. Sehen Sie – es gibt Bereiche der Wirtschaft, die laufen momentan sehr gut, zum Beispiel in der Finanzwelt oder in der Bauwirtschaft. Wenn wir das Virus in Schach halten wollen, müssen wir gewisse andere Branchen wie den Tourismus teilweise herunterfahren, wovon die restliche Gesellschaft und die Wirtschaft profitieren. Es ist daher ein Akt der Solidarität, wenn alle ihren Beitrag dazu leisten, dass diejenigen überleben, die jetzt den Preis für die Bekämpfung des Virus bezahlen.
Wie müsste die Tourismusbranche sonst noch unterstützt werden?
Ganz wichtig ist, dass die Reisequarantäne aufgehoben wird. Wir sind auf die internationalen Gäste angewiesen. Es kann nicht sein, dass wir erneut Länder auf die Quarantäneliste setzen, sobald bei uns die Infektionszahlen wieder gesunken sind. Kein Gast kommt für ein Skiwochenende in die Schweiz, wenn er erst einmal zehn Tage in Quarantäne muss. Ausserdem sind 99 Prozent der von der Reisequarantäne Betroffenen gesund. Die Massnahme ist ineffizient und kostet viel. Wir brauchen jetzt Schnelltests, um sie an der Grenze einsetzen zu können.
Und was, wenn die ausländischen Gäste nach ihrer Rückkehr aus der Schweiz zu Hause in Quarantäne geschickt werden? Da ist die Schweiz doch machtlos.
Nur weil unser Einfluss beschränkt ist, heisst das nicht, dass wir tatenlos bleiben sollten. Ausserdem gibt es internationale Gremien, in denen der Bundesrat auf einheitliche Lösungen hinarbeiten muss. Die Situation ist in allen Ländern die gleiche. Auch die Briten sind auf ausländische Gäste angewiesen. Die Strategie «Testen statt Quarantäne» dürfte sich deshalb international durchsetzen.
Zum Schluss noch ein vergnüglicheres Thema: Seit April sind Sie auch Präsident des Schweizer Brauerei-Verbandes. Was reizt Sie daran?
Ich habe früher im Weinhandel und neun Jahre lang bei der Olma gearbeitet und habe damit eine grosse Affinität zur Nahrungs- und Genussmittelbranche. Ausserdem habe ich vor ein paar Jahren die Ausbildung zum Schweizer Biersommelier gemacht. Ich finde Bier ein spannendes und sehr vielseitiges Produkt. Die Craft-Bier-Szene, die es im Ausland schon lange gibt, ist definitiv in der Schweiz angekommen und verschafft dem Bier viel Aufmerksamkeit. Bei Aufhebung des Bierkartells 1991 gab es in der Schweiz rund 30 Brauereien. Jetzt sind es gegen 1300. Davon sind 26 grosse und mittlere Brauereien im Schweizer Brauerei-Verband zusammengeschlossen.
Mir ist bewusst, dass Sie als Brauerei-Präsident befangen sind, aber ich frage Sie trotzdem: Was ist ihr Lieblingsbier?
(lacht) Das kommt ganz auf die Situation an. Wenn ich mit meinen Kollegen am Schwingfest bin und es heiss ist, dann ist ein kühles Lager genau das Richtige. Aber ich habe auch die stärker gehopften IPA sehr gerne oder die Bockbiere mit etwas mehr Alkoholgehalt. Alkohol ist nämlich ein vorzüglicher Geschmacksträger.
Was halten Sie von den Sauerbieren, die immer mehr aufkommen?
Jedes Bier ist Geschmackssache. Ich finde Sauerbiere sehr interessant, trinke sie aber nicht regelmässig.
Wenn Sie biertechnisch ins Exil müssten, wohin zöge es Sie?
Biermässig würde es mir in Belgien gut gefallen. Die Biervielfalt dort ist enorm. Jeder kennt die Trappistenbiere, aber es gibt dort noch weitaus mehr zu entdecken. Die Belgier schätzen Bier als Getränk sehr, auch das sagt mir zu.