Jürg Stettler, Sie sind heute aus Luzern zu uns nach Bern gekommen. Welches Verkehrsmittel haben Sie genutzt?
Ich habe den Zug genommen – bequem, schnell und zuverlässig. Die Fahrt durch das Emmental und Entlebuch zeigt zudem eindrucksvoll, wie gut das Schweizer ÖV-Netz ausgebaut ist. Für viele Touristen ist das eine Attraktion an sich.
Touristische Mobilität macht etwa ein Viertel der Gesamtmobilität in der Schweiz aus. Wie bedeutend ist sie für den Tourismus?
Sehr bedeutend. Die Infrastruktur des ÖV ist ein essenzielles Alleinstellungsmerkmal der Schweiz. Unsere Anbindung ist international führend – sei es durch das dichte Bahn- und Busnetz oder durch innovative Angebote wie Bus Alpin und Mybuxi, die entlegene Gebiete erschliessen. Das macht den öffentlichen Verkehr für Touristen attraktiv.
Sind solche Modelle flächendeckend realisierbar?
Nicht ganz. Sie funktionieren, sind aber finanziell herausfordernd. In peripheren Regionen ist der Betrieb oft nicht rentabel. Trotzdem sind sie essenziell, um nachhaltige Mobilitätslösungen zu fördern und touristische Destinationen besser anzubinden. Ohne gezielte Unterstützung könnten viele dieser Angebote verschwinden.
Warum nutzen Touristen oft trotzdem das Auto?
Viele bringen Gepäck mit oder reisen als Familie, was den ÖV unpraktischer erscheinen lässt. Dazu kommt, dass alternative Mobilitätsangebote oft nur regional beschränkt sind. In stark frequentierten Gegenden könnten Informationskampagnen helfen, um die Nutzung zu erhöhen.
Eine gute Erschliessung ist zentral, damit sich Besucher für den ÖV entscheiden.
Autofreie Destinationen wie Zermatt oder Saas-Fee gelten als Vorbilder. Könnte man dieses Modell ausweiten?
Es kommt darauf an. Viele autofreie Destinationen sind historisch bedingt so entstanden. Es war einst eher ein Nachteil, nicht einfach erreichbar zu sein mit dem Auto. Das hat sich inzwischen geändert. Der Wechsel von einer autoerschlossenen Destination zu einer autofreien Zone ist oft politisch und wirtschaftlich schwierig. Dennoch steigen die Erwartungen an nachhaltige Mobilitätskonzepte.
Gstaad hat die Dorfstrasse verkehrsbefreit. War das eine Herausforderung?
Ja, und zwar eine grosse. Es gab politischen Widerstand, und erst der Bau der Umfahrungsstrasse machte die verkehrsfreie Lösung möglich. Heute sind aber fast alle glücklich über die gesteigerte Aufenthaltsqualität. Das zeigt, dass es Zeit und gute Infrastruktur braucht, um solche Massnahmen durchzusetzen. Auch in Ascona hat es lange gedauert, bis der Ort autofrei wurde. Wenn wir das gesamte Verkehrssystem anschauen, ist die Vor-Ort-Mobilität ein ganz kleiner Anteil. Rund 95 Prozent entfällt auf die Anreise.
Tourismus heisst Erleben. Erleben wollen heisst Neues entdecken. Wie kann der ÖV stärker als Erlebnis inszeniert werden?
Züge wie der Glacier Express sind ein perfektes Beispiel dafür. Diese Panoramazüge sind unsere Flagship-Angebote. Sie sind international bekannt und inzwischen sehr gut gebucht. Diese Züge bieten ein einmaliges Reiseerlebnis mit atemberaubenden Aussichten. Auch der Swiss Travel Pass, eigentlich ein Generalabonnement für ausländische Gäste, macht das Reisen einfacher und für Touristen attraktiver. Das war nicht immer so, auch der Glacier Express hatte nicht nur gute Tage.
Was hat sich geändert in den letzten Jahren?
Die Bahnen haben gemerkt, dass der touristische Verkehr ein spannendes Potenzial darstellt. Inzwischen ist der Anteil des öffentlichen Verkehrs im Freizeittourismus höher als im Gesamtdurchschnitt. Im Gesamtdurchschnitt sind es unter 20 Prozent, im touristischen Verkehr 24 Prozent. Der öffentliche Verkehr hat also deutlich zugelegt. Es ist letztlich ein zentrales Element der Attraktivität der Schweiz. Und gerade die Amerikaner schätzen das enorm. Dazu kommt die Digitalisierung, die immer wichtiger wird – Apps erleichtern die Reiseplanung und machen den ÖV bequemer nutzbar.
Wie lassen sich Besucherströme bei wachsendem Tourismus besser steuern?
Gruppenreisende kann man steuern – Luzern setzt ab April auf ein Slot Management für Reisebusse. Das heisst, dass die Reisecars über eine App ihre Parkplätze buchen müssen und dann zu einer definierten Zeit am definierten Ort eintreffen müssen. Das Ganze ist kombiniert mit einer Gebühr. Es wird sich weisen, was passiert, wenn ein Reisebus zu früh oder zu spät ankommt. Was gibt es für Ausweichalternativmöglichkeiten? Wie werden die Gebühren eingezogen. Dieser Teil ist lenkbar.
Aber?
Schwieriger ist es, die Individualreisenden zu lenken. Wenn wir die Entwicklung anschauen, sieht man, dass gerade im Bereich der Individualreisenden seit Corona ein überdurchschnittliches Wachstum erfolgt ist. Die meisten, die mit dem Swiss Travel Pass reisen, sind spontan unterwegs, was zu Kapazitätsproblemen führt – besonders auf der Achse Zürich-Luzern-Interlaken. Man schätzt, dass etwa 80 Prozent der Besitzer eines Swiss Travel Passes über Luzern reisen. Diese Achse ist schon heute sehr gut ausgelastet mit Alltagspendlern und Berufsreisenden. Wenn jetzt noch die Reisenden mit dem Swiss Travel Pass dazu kommen, wird es eng.
Was kann man tun?
Die Zentralbahn plant Kapazitätserweiterungen, aber bis zur Umsetzung dauert es. Sie bestellen neues Rollmaterial und wollen punktuell die Streckenkapazitäten ausbauen. Geplant wird mit einem Zeithorizont 2029.
Wie finanziert man nachhaltige Mobilität?
Der ÖV sollte idealerweise selbsttragend sein, was aber nur im Fernverkehr der Fall ist. Im Regionalverkehr liegt der Kostendeckungsgrad nur bei 40 bis 60 Prozent, mit grossen Unterschieden, je nach Region und Linie. Vor allem in den Randregionen sind Auslastung und Kostendeckung oft zu tief. Der Freizeit- und Tourismusverkehr wird nicht mit öffentlichen Geldern subventioniert, was gewisse Linien unter Druck setzt. Ein Beispiel ist die Erschliessung der Engstlenalp, wo ein Bus mangels Rentabilität eingestellt wurde.
Was ist passiert?
Die Buslinie wurde nach sechs Jahren eingestellt, weil sie nicht genügend genutzt wurde. Sie hätte 40 Prozent mehr Passagiere benötigt, um kostendeckend zu sein. Die meisten Besucher kamen weiterhin mit dem Auto. Das zeigt, dass parallele Autoerschliessungen den ÖV unattraktiver machen. Das zeigt auch die Reaktion eines Hoteliers. Er sagt: Bedauerlich, dass die Busverbindung eingestellt wird, aber es ist nicht existenziell für den Betrieb. Umgekehrt, wenn die Strasse geschlossen würde und nur noch mit dem ÖV eine Anreisemöglichkeit bestünde, wäre das für den Hotelbetrieb viel einschneidender.
Sollten solche Angebote stärker staatlich gefördert werden?
Es ist eine politische Frage. Die Gelder sind begrenzt, und der ÖV ist in der Schweiz bereits gut ausgebaut. Gerade in Zeiten, wo die öffentlichen Gelder knapp sind, kommt auch der öffentliche Verkehr unter Druck und damit dessen Finanzierung. Im Quervergleich sind wir in der Schweiz in einer sehr komfortablen Lage. Angesichts der Klimaveränderungen sind wir gut beraten, die Sparakzente nicht beim ÖV zu setzen. Sonst wird es noch schwieriger, unsere Klimaziele zu erreichen.
Flugreisen sind ein grosser Klimafaktor. Was bringt es, wenn wir unseren CO₂-Ausstoss reduzieren, während die ausländischen Gäste mit dem Flieger anreisen. Welche Massnahmen gibt es?
Die Anzahl internationaler Reisender wächst stetig. UNWTO prognostiziert bis 2032 einen Anstieg auf 2,2 Milliarden Passagiere. Die IATA geht davon aus, dass sich die Passagierzahlen bis 2050 verdoppeln werden, bis zu 10 Milliarden Menschen sollen dann pro Jahr mit dem Flugzeug reisen. Die Schweiz ist als Fernreiseziel attraktiv, aber die CO₂-Bilanz des Flugverkehrs bleibt ein Problem, gerade im Hinblick auf diese Wachstumsprognosen. Möglicherweise entschärfen neue Technologien das eine oder andere Problem, aber das allein wird nicht reichen.
Sollten Flugtickets teurer werden?
Ja, aber das ist politisch schwer umsetzbar. Internationale Flüge sind seit 1944 von der Kerosinsteuer befreit. Binnenflüge sind besteuert, machen aber nur einen kleinen Teil des Luftverkehrs aus. Eine faire internationale Besteuerung wäre ein Schritt in Richtung Nachhaltigkeit.
Sind nachhaltige Treibstoffe eine Lösung?
Sie sind eine Möglichkeit, aber ihre Produktion ist begrenzt und teuer. Die EU schreibt eine steigende Nutzung vor, doch Biotreibstoffe konkurrieren mit der Nahrungsmittelproduktion. Und sie sind wesentlich teurer als Kerosin. Wasserstoff- oder Elektroflugzeuge sind noch nicht massentauglich. Synthetisches Kerosin könnte langfristig eine Lösung sein, aber es fehlt derzeit an Kapazitäten und Kosteneffizienz.
Wie beeinflusst das Wachstum des Tourismus die Lebensqualität?
Overtourism wird zunehmen. Destinationen müssen darauf reagieren, etwa mit besseren Steuerungsmechanismen. In stark frequentierten Orten wie Luzern oder Interlaken gibt es bereits Engpässe. Langfristig werden wohl Obergrenzen diskutiert werden müssen.
Welche Rolle spielt Mobility Pricing?
Im Moment ist Mobility Pricing ein Tabuthema. Sparbillette sind ein erster Schritt zur Steuerung der Nachfrage. In Zukunft könnten differenzierte Preise helfen, den Verkehr besser zu lenken und Spitzenzeiten zu entlasten.
Wie kann die Digitalisierung nachhaltige Mobilität fördern?
Mobility as a Service ist ein grosses Thema. Echtzeitdaten über Auslastungen könnten Touristen helfen, alternative Verbindungen oder Zeiten zu wählen. Digitale Plattformen ermöglichen eine bessere Steuerung und machen den ÖV noch attraktiver.