Jon Erni, sind Sie ein Digitalisierungsmissionar?

Ja, davon habe ich sicher einiges (lacht). Pro Jahr halte ich rund 50 
oder sogar 60 Vorträge im In- und Ausland über die Digitalisierung. Ich selbst bezeichne mich aber lieber als Digitalisierungshumanist.

Was ist der Unterschied?

Bei der Digitalisierung stehen heute meist Technik und Kostenoptimierung im Vordergrund. Man spricht von Drohnen, Robotern, dem Internet der Dinge – vielen Leuten macht das Angst. Mein Anliegen ist es, die Menschen und ihre Bedürfnisse ins Zentrum zu rücken. Zum Beispiel möchten viele Menschen im Alter möglichst lange zu Hause leben, statt in ein Altersheim zu gehen. Bei diesem Wunsch kann uns die Technologie unterstützen und ein echtes Bedürfnis lösen.

Sie treiben die Digitalisierung vor allem in ländlichen Regionen und Berggebieten vorwärts. Weshalb?

Wir müssen handeln, bevor alle Leute weg sind. Die Abwanderung ist spürbar, kann aber durch die Digitalisierung gestoppt werden. Sie ist der Zukunftsmotor schlechthin und ermöglicht Menschen neue Lebens- und Arbeitsmodelle. Um den digitalen Werkzeugkasten bestmöglich nutzen zu können, sind die Randregionen und vor allem deren KMU, Bildungsstätten und medizinischen Institute auf Glasfaseranschluss angewiesen. Nur so haben sie langfristig eine Überlebenschance.

Jon Erni (51) ist im Unterengadin aufgewachsen. Nach dem Gymnasium am Hochalpinen Institut Ftan studierte er an der ETH Zürich Elektrotechnik. Erni war für verschiedene Firmen wie Sunrise oder Alcatel-Lucent tätig, zuletzt als Leiter Grosskunden und Public Sector in der Geschäftsleitung von Microsoft Schweiz.
Im März 2018 verliess er das IT-Unternehmen und treibt seither im Engadin wie in ganz Graubünden den Glasfaseranschluss und die Digitalisierung voran. Jon Erni begleitet Regionen bei der digitalen Transformation und leitet verschiedene Projekte wie den InnHub in La Punt oder die Tourismusplattform discover.swiss.
Obwohl Erni mit Ehefrau und Tochter in Thalwil (ZH) lebt, verbringt er viel Zeit im Engadin. Zu seinen Hobbys gehören Jagen und Klarinette spielen in der Familienkapelle und im Dorfverein Scuol.

Wie wichtig ist die Telemedizin für die dezentrale Gesundheitsversorgung im Kanton?

Das Unterengadin ist ein gutes Beispiel. Bereits heute arbeitet das Gesundheitszentrum im Bereich MRI mit Spezialisten in Samedan oder dem Kantonsspital in Chur zusammen. Bei Schlaganfällen ist das Kantonsspital St. Gal-
len der Partner. In Scuol haben wir ein hoch spezialisiertes Kamerasystem, das die kleinsten Bewegungen im Gesicht des Patienten erkennt und per Videoübertragung einem Spezialisten übermittelt. Nur mit solchen Kooperationen haben kleine Spitäler eine Zukunft, da spezialisierte Ärzte weder ausgelastet noch zahlbar wären. Internisten, Orthopäden und Gynäkologen aber brauchen wir hier einige.

Mehr Leben ins Engadin soll auch der geplante InnHub in La Punt bringen.

Dieses Projekt bereitet mir zurzeit die grösste Freude. Zusammen mit Ein- und Zweitheimischen entstand eine Vision fürs Engadin, die viele unterschiedliche Themen sowie die Idee von Mia Engiadina vereint. Der InnHub soll zum bevorzugten Rückzugs- und Inspirationsort werden und Menschen aus der ganzen Welt anziehen. Weil es hier etwas gibt, das einzigartig und einmalig ist.

Wie konnten Sie die zahlreichen prominenten Partner gewinnen?

Bei allen besteht eine starke Verbundenheit mit dem Engadin. Der Unternehmer Beat Curti beispielsweise hat ein Hotel in La Punt und ist mit dem Architekten Norman Foster befreundet. Foster wiederum besass vor vielen Jahren eine Wohnung in La Punt und war Teilnehmer am Engadiner Skimarathon. Caspar Copetti, Erfinder des Laufschuhs «On», führt seine Strategiemeetings hier durch und wohnt auch in La Punt. Mit Christian Wenger, der in Zürich eine grosse Anwaltskanzlei führt, haben wir den Gründungspräsidenten von Digital Switzerland im Boot. Auch er hat in 
La Punt den Zweitwohnsitz.

Das klingt alles nach einem grossen Glücksfall.

Für dieses Projekt haben wir schlicht alles: die Ideen, das Netzwerk, die Finanzierung sowie die Mischung aus Ein- und Zweitheimischen. Allein schon den weltberühmten Norman Foster als Architekten zu haben, ist wie ein Sechser im Lotto. Wir hatten zwei Info-Veranstaltungen in La Punt. Bei der ersten war er persönlich vor Ort, bei der zweiten mit einem Filmbeitrag präsent. Er erklärte darin den Third Place und weshalb es diesen braucht. Foster ist sicher auch mit ein Grund, weshalb 88 Prozent der Bevölkerung Ja sagten, uns das Baurecht für die 2500 Quadratmeter Land zu geben.

Mitarbeiter grosser Firmen sind in Sachen Arbeitsplatz-Infrastruktur oft verwöhnt. Werden Sie ihnen gerecht?

Definitiv. Die Norman Foster Foundation beschäftigt sich hauptsächlich damit, mittels Architektur soziale Räume zu schaffen, die Innovationen fördern. Architektur wirkt auf die Energie, Denkweise und Zusammenarbeit von Menschen. Der Stararchitekt hat nicht von ungefähr mit Steve Jobs das Hauptgebäude für Apple realisiert, für den Sportwagenhersteller McLaren eine neue Produktionsstätte und für den Medienkonzern Bloomberg ein neues Bürogebäude gebaut.

Mit wie vielen Menschen rechnen Sie?

Das Amphitheater im Zentrum kann als Begegnungszone, zum Kaffeetrinken oder zum Arbeiten genutzt werden. Es wird zahlreiche Tagesgäste anziehen. Die Logiernächte schätzen wir zwischen 5000 bis 10'000 im Jahr. Das ist im Vergleich zum Wintersport, der dem Engadin jährlich über zwei Millionen Gäste verschafft, eine beschauliche Anzahl.

Haben Sie genügend Betten vor Ort?

Im Hub selbst wird es nur wenige, dafür sehr grosse und höchst moderne bewirtschaftete Zweitwohnungen geben. Sie sollen Teams, die nicht in ein Hotel wollen, Komfort und Privatsphäre bieten. Ferner arbeiten wir mit Sonja Bannwart zusammen, die in La Punt ein neues Bed and Breakfast realisiert. Auch das Hotel Krone, das Beat Curti gehört, sowie andere Gasthäuser und bestehende Ferienwohnungen vor Ort werden unsere Partner sein. Um 400 Gäste unterzubringen, werden wir auch auf das Beherbergungsangebot der umliegenden Gemeinden angewiesen sein.

400 Personen auf einmal im Hub? An Zuversicht mangelt es Ihnen nicht.

So viel Platz bietet das Amphitheater, in welchem auch Anlässe zu den unterschiedlichsten Themen stattfinden sollen. Wir denken etwa an Veranstaltungen zum Thema Gesundheitstourismus, Hackathons, also Hack-Marathons, oder kulturelle Anlässe.

Kann man so ein Projekt gewinnbringend betreiben?

Die Herausforderung ist gross. Wir holen so viele Einnahmen wie möglich durch Firmen herein, die hier Seminare buchen. Zu den Co-Working-Einnahmen kommen solche aus der Mantelnutzung hinzu, wo sich lokale Unternehmen einmieten können. Wir haben bereits feste Zusagen aus den Bereichen Bildung, Gesundheit, Tourismus und Sport. Ich bin überzeugt, dass wir in diesem Setup und mit den Leuten, die wir bislang mobilisieren konnten, nach vier, fünf Jahren Gewinn machen können.

Haben Sie auch schon Zusagen von Firmen?

Ein Hauptnutzer wird «On» sein, ein anderer Microsoft. Mit weiteren Firmen aus der IT-Branche, mit Banken und Versicherungen stehen wir in Kontakt, und Swisscom hat Interesse bekundet. Auf unserer Liste stehen rund 20 grosse Unternehmen, die regelmässig irgendwo Retreats durchführen. Grosse Firmen geben dafür jährlich sechsstellige Beträge aus. Wir müssen nun schauen, dass ein Teil dieses Budgets zu uns kommt.

Das Leuchtturmprojekt kostet 45 Millionen und wird privat finanziert. Wie ist das möglich?

Zunächst muss man sicherstellen, dass jährliche Einnahmen generiert werden können. Wenn ein paar Partner das garantieren, findet man auch jemanden, welcher das Gebäude finanziert. Beat Curti, der erfolgreich über 30 Firmen aufgebaut hat, engagiert sich sehr stark für den InnHub. Zudem verfügt er über ein grosses Netzwerk, das Zugang zu weiteren Finanzierungen ermöglicht. Ebenso Christian Wenger. Er ist wirtschaftlich sehr gut vernetzt und hat Kontakt zu den grossen Versicherungen und Pensionskassen.

Was sind die nächsten Schritte?

Es braucht noch projektbezogene Anpassungen, die Baueingabe folgt im Sommer oder Herbst, die Zonenrevision hoffentlich bis Ende Jahr. Im besten Fall können wir 2020 mit dem Bau beginnen und den Hub 2022 eröffnen.

Eine letzte Frage: Wenn es künftig keine Rolle mehr spielt, wo die Menschen arbeiten, weshalb sollen sie ins abgeschiedene La Punt reisen?

Weil es für gewisse Arbeiten Distanz braucht! Für kreative oder strategische Überlegungen zum Beispiel. Das Engadin ist von jeher ein Denkort und hat bereits den Philosophen Friedrich Nietzsche inspiriert. Hier in der Abgeschiedenheit ist es einfach zu fokussieren und sich zu konzentrieren, weil Landschaft und Menschen Ruhe ausstrahlen. Das hat übrigens auch der Hamburger Unternehmer und Aida-Gründer Horst Rahe bemerkt. Er ist im Engadin zweitheimisch und hat hier seine Ideen für bezahlbare Kreuzfahrten entwickelt.

Das Interview führte Natalia Godglück.