Sie sind gesund, reiselustig und werden immer zahlreicher: Bereits 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind heute über 65 Jahre alt. Und weil die Lebensbedingungen hierzulande hervorragend sind, werden Seniorinnen und Senioren immer älter. Schon im Jahr 2050 wird sich die Zahl der über 80-Jährigen mehr als verdoppelt haben – auf 1,1 Millionen Personen, die notabene immer fitter werden. Und nicht nur das: Viele von ihnen haben auch die entsprechenden finanziellen Mittel und vor allem die Zeit, sich ausgedehnte Ferien zu gönnen.
Die Ferienbranche müsste sich längst um diese Zielgruppe reissen, zumal die Schweiz einen exzellenten Ruf als sicheres Reiseland mit bester medizinischer Versorgung hat. Doch Senioren zu bewerben, ist gar nicht so banal, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Best Ager sind eine sehr heterogene Gruppe – die einen noch fit, kulturaffin oder Feinschmecker, andere sind nicht mehr mobil, haben vielleicht Diabetes und wollen lieber Wellness statt Wandern.
Bitte kein Seniorenmenü
Will man sie alle als Gäste gewinnen, muss man äusserst differenziert vorgehen und vor allem: die Rentner nicht allzu alt aussehen lassen. Angebote, die nach Seniorenmenü riechen, sind in einer Jugendwahngesellschaft ein No-Go. Heutige Senioren fühlen sich vital und wollen keine Sonderbehandlung, zumindest nicht nach aussen hin. Doch damit nicht genug: Ab etwa 75 Jahren dreht der Wind. Die gesundheitlichen Einschränkungen sind nicht mehr wegzumogeln und viele Reisewillige froh, wenn sie genau wissen, welche Bedingungen sie am Ferienort vorfinden und ob man sich im Notfall gut um sie kümmern kann. Wie also kann man Seniorinnen und Senioren erfolgreich fürs Reisen motivieren?
«Wir sprechen Senioren nicht über ihr Alter, sondern über ihre Interessen an.»
Susanne Gäumann, Geschäftsführerin Claire & George
«Wir sprechen sie nicht über ihr Alter, sondern über ihre Interessen an, seien dies Spazierbegleitung, Stadtführungen, Kulinarik oder Ausflüge in die Natur», sagt Susanne Gäumann, Geschäftsführerin von Claire & George. Die Stiftung setzt sich für barrierefreie Ferien in der Schweiz ein und bietet Unterstützung je nach Bedarf, von Spitex über Reisebegleitung bis zum Transport.
«Reisewillige können einerseits selber Hotels und Ausflüge auf unserer Website auswählen. In der Regel rufen sie aber an und möchten eine Empfehlung», so Gäumann. Zum Beispiel ein Hotel mit Lift, einem geräumigen Bad und Parkplätzen, die nicht zu weit entfernt sind. Auch die Halbpension inklusive Unterhaltungsprogramm ist beliebt, da ältere Gäste am Abend gern im Hotel bleiben. «Gute 3-Sterne-Hotels an guter Lage sind sehr begehrt. Unsere Kunden wollen sich erholen, aber auch etwas erleben», so Gäumann. Die soziale Komponente spielt ebenfalls eine grosse Rolle, weil manche geschieden oder verwitwet sind oder sich während der Ferien einfach gern mit anderen Ehepaaren austauschen.
Zugänglichkeit ausweisen
Im Angebot hat Claire & George rund 100 Hotels, die Barrierefreiheit bieten. «Wir vermitteln zwischen 3000 und 4000 Logiernächte pro Jahr, Tendenz steigend», sagt Gäumann. Weil die Angebote auf Anklang stossen, baut die Stiftung derzeit gemeinsam mit Tourismusdestinationen das Ausflugsprogramm aus. Bisher sind es 30 Tagestouren, die man auch mit Begleitung buchen kann. Dem barrierefreien Tourismus hat sich auch die Initiative OK:GO verschrieben, die zum Ziel hat, die Zugänglichkeit von Hotels, Restaurants, Bergbahnen und anderen Dienstleistern für mobil eingeschränkte Gäste zu erfassen und publik zu machen (siehe Box unten).
OK:GO Initiative
Hat es im Restaurant einen Lift zum WC? Wie weit ist der Parkplatz vom Hotel entfernt? Und wie geräumig ist das Badezimmer? Solche Fragen beschäftigen Reisende ab einem gewissen Alter immer mehr. Man ist zwar noch fit, aber nicht mehr gut zu Fuss. Oder man braucht im Badezimmer schlicht mehr Platz, weil man nicht mehr so wendig ist wie mit zwanzig.
Der Förderverein Barrierefreie Schweiz (FVBS) hat deshalb mit Unterstützung von Innotour und dem Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) die Initiative OK:GO lanciert. Sie hat zum Ziel, die Zugänglichkeit im Tourismussektor zu erfassen und für alle Gäste auf einen Klick sichtbar zu machen.
Wie das geht? «Touristische Dienstleister können die Zugänglichkeitsinfos mit der App Ginto erfassen», erläutert Projektleiterin Julia Vielle. «Danach müssen sie die Infos nur noch gut sichtbar mithilfe des OK:GO-Emblems auf ihrer Website platzieren und verlinken.» Die Kriterien wie etwa die Breite der Türen in Zimmern, Lift, Anzahl Stufen in Restaurants und viele weitere wurden gemeinsam mit Behindertenorganisationen entwickelt. Touristiker erfüllen mit dem OK:GO-Emblem ausserdem einen Nachweis für das Nachhaltigkeitsprogramm Swisstainable von Schweiz Tourismus. Die Zielgruppen von OK:GO sind Senioren, Familien mit Kleinkindern und Menschen mit Behinderungen. «Derzeit fokussieren wir auf Mobilität. In einem weiteren Schritt wollen wir auch die Zugänglichkeit für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen ausweisen.»
Bisher sind 24 Destinationen an Bord und 400 Orte, darunter Hotels, Restaurants, Bergbahnen, Museen und Naturparks, erfasst. «Unser Ziel ist, im Tourismussektor zur Branchennorm zu werden», sagt Vielle. Dafür muss die Initiative aber noch bekannter werden. In erster Linie bei den Gästen, aber auch bei Touristikern. Kommt hinzu, dass die Infos derzeit noch nicht richtig vermarktet werden. Teilweise ist das OK:GO-Emblem so diskret auf der Website platziert, dass man die nützlichen Infos kaum findet. «Dabei ist es ein Engagement, auf das alle stolz sein können», sagt Vielle. Die Sensibilisierung der Gäste will der Förderverein nächstes Jahr in Angriff nehmen, wenn eine gewisse Fülle an Angeboten besteht. lm
ok-go.org
Doch all diese Angebote müssen erst eine grosse Hürde überwinden: Sie nützen nichts, wenn die Gäste sie nicht auf Anhieb finden. Oder gar nicht wissen, dass es sie gibt. Für die Initiative OK:GO und die Stiftung Claire & George ist deshalb klar: Beim Marketing besteht dringend Nachholbedarf. «Jetzt gilt es, die barrierefreien Angebote sowie Unterstützungs- und Entlastungsservices noch besser bekannt zu machen», sagt Gäumann. Claire & George bündelt diese bereits auf ihrer Webplattform. Doch es braucht eine gemeinsame Vermarktung über alle Stakeholder hinweg. Konkret ist Claire & George daran, mit fünf Destinationen eine gemeinsame Marketingstrategie aufzubauen. «Wir wollen auch eine Social-Media-Kampagne starten und Multiplikatoren wie Pro Senectute oder die Angehörigen noch stärker mit ins Boot holen.»
Und wie steht es um ausländische Touristen 65 plus? «Das ist ein wachsender Markt, und darum ist es zentral, dass die Schweiz auf der internationalen Landkarte vertreten ist», findet Gäumann. Ihre Kunden sind aktuell zu 90 Prozent Einheimische, aber die ausländischen Gäste werden von Jahr zu Jahr zahlreicher, obwohl das barrierefreie Angebot im Ausland noch gar nicht richtig vermarktet wird. Doch langsam tut sich was: «Angedacht ist eine Kampagne mit Schweiz Tourismus, bei der die barrierefreien Ausflüge und Touren ausländischen Tour-Operators und Bloggern vorgestellt werden», so Gäumann.
[IMG 2]
Bei Schweiz Tourismus hat man zumindest die mobilen Best Ager längst «prominent auf dem Radar», wie es auf Anfrage heisst. «Wir sprechen sie an, indem wir die Convenience des Reisens in der Schweiz hervorstreichen, die Sicherheit und natürlich die Qualität.» Besonders erfolgreich seien Flusskreuzfahrten in Europa, von denen auch die Schweiz profitiere, «weil es viele Vor- und Nach-Cruise-Reisen gibt, bei denen man die Schweiz besucht».
Auch 80-Jährige wollen noch reisen
Weit bescheidener sieht hingegen die Situation bei der Zielgruppe 75 plus aus. «Da hat die Schweiz noch einiges an Potenzial», stellt Anne Cheseaux fest. Sie ist Unternehmensberaterin und Vorsitzende der Geschäftsleitung der Firma Aevea, die sich auf altersfreundliches Reisen spezialisiert hat. «Die Generation der über 75-Jährigen würde zwar gern reisen, aber sie hat Angst, weil sie dabei auf Unterstützung angewiesen ist.»
Cheseaux ist überzeugt, dass man ein Hotel mit relativ wenig Aufwand altersfreundlich gestalten kann. Neben den Anforderungen an die Infrastruktur wie Barrierefreiheit, gute Beleuchtung und Signaletik sei vor allem die Sensibilität für diese teils fragile Gruppe zentral. «Die Mitarbeitenden müssen gut geschult sein, weil alte Menschen zum Beispiel an der Réception mehr Zeit brauchen», sagt Cheseaux. Sie sind oft unsicher und müssen vielleicht dreimal dieselbe Frage stellen.
Das Personal muss auch erkennen, wenn sich die Gäste unwohl fühlen, damit sie allenfalls einen Arzt rufen können. «Leicht demente Menschen verirren sich zudem manchmal, und dann muss jemand da sein, der sie freundlich ins Zimmer begleitet.» Dieselbe Umsicht gilt für die Restauration: «Die Küche sollte auch kleinere Portionen anbieten und mehr würzen, weil der Geschmackssinn im Alter schwächer wird», so Cheseaux.
«Man kann ein Hotel mit relativ wenig Aufwand altersfreundlich gestalten.»
Anne Cheseaux, Unternehmensberaterin und Vorsitzende der Geschäftsleitung von Aevea
Im Gegensatz zu jüngeren Best Agern hat diese Generation allerdings ein reduziertes Budget. Und genau darin sieht Anne Cheseaux für kleine 2- bis 3-Sterne-Hotels, die nicht rentabel sind oder bei denen eine Nachfolgeregelung ansteht, eine grosse Chance: «Das Ziel von Aevea ist, diese Betriebe als altersfreundliche Hotels zu betreiben und mit Alterswohnungen zu ergänzen. Die gesamte Infrastruktur wäre auf das Thema Alter ausgerichtet.»
Die Bewohner könnten alle Hoteldienstleistungen wie Housekeeping oder Restauration nutzen, für die Feriengäste wäre wiederum die medizinische Versorgung sichergestellt. «Die Betriebe hätten dadurch eine bessere Kostenstruktur und könnten einen Ganzjahresbetrieb aufrechterhalten», erklärt Cheseaux. Einen ersten Vertrag hat Aevea bereits unterzeichnet. Nächstes Jahr wirds laut Cheseaux konkret.
Führt man sich die demografische Entwicklung vor Augen – 1,1 Millionen über 80-jährige Menschen im Jahr 2050 – ist es höchste Zeit, die ältere Generation als treue Klientel zu gewinnen.