Zermatt hat einen guten Sommer hinter sich. Allein im ersten Halbjahr konnte die Matterhorn Gotthard Bahn 1,29 Millionen Ankünfte in dem autofreien Bergort verzeichnen, 4 Prozent mehr als im Vorjahr. Insbesondere hat sich der internationale Ausflugstourismus in den letzten Jahren zum Wachstumsbringer der Destination Zermatt entpuppt. Die Gornergrat-Bahn wies im ersten Halbjahr 18 Prozent Mehrumsatz aus. Die Zermatt Bergbahnen konnten innert der letzten vier Jahre den Verkehrsertrag im Sommer um 24 Prozent erhöhen. Im Winter war der Zuwachs nicht mal halb so gross. Seit Jahren steigt die Zahl der Zermatt-Touristen stärker als das Logiernächtevolumen.
Die Zermatter Hoteliers beobachten diese Entwicklung mit Skepsis. Mehr Nachfrage begrüsst man zwar grundsätzlich, die Auslastung der Zermatter Beherbergung liegt heute bei etwas über 40 Prozent, hat also noch viel Luft nach oben. Zudem kamen die Übernachtungspreise in den letzten Jahren unter Druck. Mehr Nachfrage könnte sich positiv auf die Preise auswirken – wenn es sich um die richtige Nachfrage handelt. Im Augenblick führt die steigende Gästefrequenz im Zentrum des Ortes jedoch zu verstopften Strassen und nicht im gewünschten Ausmass zu mehr belegten Betten. «Wenn schon so viele Touristen zu uns kommen, dann soll die Hotellerie und Gastronomie auch davon profitieren», spricht Corinne Julen, Inhaberin und Geschäftsführerin des Europe Hotel & Spa, Klartext.
«Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf einmal überrannt werden.»
Corinne Julen, Europe Hotel & Spa Zermatt
«Gewisse Anzeichen sind da»
Der wachsende Touristenstrom könnte aber genau das Gegenteil bewirken. Zur Hauptreisezeit der asiatischen Gäste im Juli und August überlege sich der eine oder andere Hotelgast bereits, seine Wanderferien lieber in den Herbst zu verschieben, wenn es in Zermatt wieder ruhiger ist, beobachten Hoteliers. Wie andere Berufskollegen empfiehlt Corinne Julen ihren Sommergästen inzwischen statt einen Ausflug auf den Gornergrat lieber eine Tour zum Leisee. Paul-Marc Julen, Präsident von Zermatt Tourismus und mit «Tradition Julen» selbst Hotelier, möchte in Zermatt zwar noch nicht von «Overtourism» reden, aber «gewisse Anzeichen sind da». Und die gelte es ernst zu nehmen. Bei Zermatt Tourismus sei man sich «der Herausforderung bewusst», so Paul-Marc Julen.
«Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf einmal überrannt werden», warnt Corinne Julen. Allein 700 Millionen Chinesen sollen in den nächsten fünf Jahren ins Ausland reisen. Asiaten belegen von Mai bis Juli nach den Schweizern, die inzwischen nicht mal ein Drittel ausmachen, auch die meisten Hotelbetten. «Wir müssen auf einen ausgewogenen Gästemix achten», so Corinne Julen weiter. Qualitäts- und nicht Massentourismus laute die Devise. «Wir sollten zukünftig mit aller Sensibilität zusammen mit den wichtigen Leistungsträgern eine gesunde Balance halten», meint ebenfalls Mario Noti, Inhaber und Geschäftsführer des Hotels Bellerive in Zermatt. «Damit eine nachhaltige Zukunft für alle gewährleistet ist.»
«Von Overtourism will ich noch nicht reden, aber gewisse Anzeichen sind da.»
Paul-Marc Julen, Tradition Julen Hotels Zermatt
Touristenströme sollen gelenkt werden
Die Kernfrage dabei ist: Welches Angebot braucht es, damit Zermatt auch für internationale Gäste mehr als nur ein Tagesziel ist? Auf jeden Fall mehr als ein paar touristische Hotspots, die alle an einem Tag zu entdecken sind. Und an denen sich heute der Gästestrom zuspitzt und damit andere wiederum abschreckt. Mario Noti spricht von einem «Streuen des Angebots»: «Wir müssen attraktive Angebote für Übernachtungsgäste schaffen.» Das Angebot breiter aufstellen will man auch bei Zermatt Tourismus. Präsident Paul-Marc Julen: «Statt drei bis vier schöne Wanderungen müssten wir eine Vielzahl promoten.»
Seit letztem Jahr befasst man sich bei Zermatt Tourismus mit der Lenkung der Touristenströme. Mit den Massnahmen soll die Aufenthaltsdauer und damit die Wertschöpfung gesteigert werden. «Wir müssen uns überlegen, was den Residenzgast fördert. Wir wollen nicht zur Eintagsfliege werden», betont Corinne Julen.
In Bezug auf die Botschaft, die es zu kommunizieren gilt, sind sich die Hoteliers einig: Zermatt erlebt man nicht an einem Tag. «Am schönsten ist das Matterhorn bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang», wirbt Paul-Marc Julen. Beim Zermatter Hotelierverein, bei dem Mario Noti und Corinne Julen im Vorstand sind, diskutiert man aktuell intensiv mögliche Massnahmen.
«Wir müssen attraktive Angebote für Übernachtungsgäste schaffen.»
Mario Noti, Hotel Bellerive Zermatt
Die Bahnen wollen noch mehr Tagesgäste nach Zermatt holen
Gleichzeitig versucht die Matterhorn Gotthard Bahn (MGB), immer mehr und schneller Touristen nach Zermatt zu bringen, was einen Tagestrip in den Bergort wiederum attraktiver macht. Für eine erleichterte Anreise plant die MGB unter anderem zusätzliche Kreuzungsstellen auf dem einspurigen Streckennetz nach Zermatt und längere Züge und Perrons an den Bahnhöfen. Zudem soll beim Zugshuttle vom Matterhorn Terminal Täsch ins autofreie Zermatt ein 15-Minuten-Takt den aktuellen 20-minütigen ablösen. «Overtourism ist aktuell kein Thema für uns», so Bärwalde.
Höhere Beförderungskapazitäten durch Taktverdichtung strebt die MGB ebenfalls auf der Strecke zum Gornergrat an. Mit neuen Zügen wird man Ende 2022 in der Hauptsaison vom aktuellen 24-Minuten-Takt auf einen 20-Minuten-Takt wechseln. Ausflugsgäste stehen dabei im Zentrum des Interesses: «Für uns sind die Ausflugsgäste ertragsmässig interessanter als die Skifahrer», so Mediensprecher Jan Bärwalde.
Gleichzeitig wird auf den Fernmärkten die Werbetrommel gerührt: Die Zermatt Bergbahnen AG hat in den letzten Jahren die Marktpräsenz in Asien stark intensiviert, anfangs Oktober ergänzte man die Salesabteilung gleich um zwei Personen für die Fernmärkte. Es ist zu erwarten, dass in Zermatt die Touristen erstmal weiter zunehmen. Die Hoteliers müssen diesen Zielkonflikt nun lösen.