Das Votum über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) am 6. Dezember 1992 gehört zweifelsfrei zu den Abstimmungen mit den weitreichendsten Folgen. Kein Wunder, beschäftigte das Thema auch die hotel + tourismus revue, wie diese Zeitung damals hiess. Sowohl die Publikation als auch der herausgebende Hotelverband bezogen klar Stellung für ein Ja – wie auch praktisch alle anderen touristischen Verbände (einzig der Wirteverband, heute Gastrosuisse, hatte die Nein-Parole gefasst).
In seinem Leitartikel vor der Abstimmung fand der Chefredaktor Andreas Netzle:
Die Schweiz konnte sich lange «wegen» Europa profilieren. Heute kann sie es nur noch «mit» Europa, das heisst mit den gleichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie unsere Hauptexportländer. Dafür sorgt der EWR. Es wäre geradezu unverantwortlich, unserer Wirtschaft den Zugang zum grössten Binnenmarkt der Welt zu verbauen oder doch so zu erschweren, dass sie nicht mehr konkurrenzfähig ist.
Die Zeitung war aber keinesfalls einseitig, sondern machte auch auf die negativen Folgen eines EWR-Beitritts aufmerksam. Sie berichtete etwa darüber, dass sich viele Hoteliers vor Massen ausländischer Arbeitskräfte fürchteten. Sie schrieb über die Brennereien, denen die ausländische Billigkonkurrenz Bauchweh bereitete (und empfahl einen Schluck Kirsch gegen den Schmerz). Sie liess den Hotelier und EWR-Gegner Gion Schwarz zu Wort kommen, der ein Nein als «Zeichen unserer Offenheit mit der ganzen Welt» bewarb.
Selbst Tourismusgemeinden sagten Nein
49,7 Prozent Ja, 50,3 Prozent Nein: Am Ende behielten die Gegner die Überhand. Die Tourismusvertreter mussten ernüchtert feststellen, dass sie die Basis nicht erreicht hatten. In mehreren wichtigen Tourismusgemeinden war die Vorlage sang- und klanglos untergegangen, wie die hotel + tourismus revue festhielt – Zermatt: 66,5 Prozent Nein, Grindelwald: 78 Prozent Nein, St. Moritz: 57,5 Prozent Nein, Flums: 81 Prozent Nein. Von den 16 im Blatt aufgeführten Tourismusgemeinden hatten nur Montana und Saas-Fee Ja gestimmt.
In der Ernüchterung stellten sich viele Fragen: Droht der Zusammenhalt der Schweiz zu bröckeln? Wie kann man nun gemeinsam mit Europa die Fernmärkte umwerben? Kommt es zum Schulterschluss im Tourismus? Und wie lässt sich das ramponierte Image der Schweiz im Ausland wieder ins Lot rücken? Einige reagierten mit Galgenhumor: Ein Tourismusdirektor plädierte für den Werbespruch «Warum in die Karibik? Jetzt ist auch die Schweiz eine Insel.». Eine Hotelière sprach sich für schön gestaltete Reisevisa aus, um die Touristen weiterhin in die Schweiz zu locken.[DOSSIER]
Gleichzeitig spürt man in den Zeilen von damals die grosse Hoffnung, die Schweiz werde aus dem Schock lernen und sich doch noch Europa zuwenden:
Wahrscheinlich wird dieses [...] Szenario nie Wirklichkeit, weil wir – geläutert – schon bald wieder über Europa abstimmen werden.
Die Branche malte den Teufel deshalb nicht an die Wand, obschon die Wettbewerbsfähigkeit «kurzfristig erheblich beeinträchtigt» werde. Jacques Dallinges, Präsident des Waadtländer Hotelierverbands, fasste die Stimmung treffend zusammen: «Sicherlich wird die Hotellerie nicht morgen früh die negativen Auswirkungen der EWR-Ablehnung zu spüren bekommen. Dennoch ist über kurz oder lang mit einer langsamen und schädlichen Erosion der Hoteleinnahmen zu rechnen.» Vor allem im grenzüberschreitenden Wettbewerb befürchtete die Branche Rückschläge. Das Gastrounternehmen Eurest, heute Teil der Compass-Gruppe, sagte etwa, grenzüberschreitende Geschäfte seien nur noch «mit grossen Schwierigkeiten» realisierbar.
Mit Blick auf aktuelle Herausforderungen wie Energieversorgung und Fachkräftemangel wäre es heute von Vorteil, die Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa hätten sich in den 30 Jahren seit 1992 endgültig geklärt. Stattdessen begleitet uns das Thema vermutlich noch weitere Dekaden.