Ein anzüglicher Witz vom Kollegen, ein unmoralisches Angebot vom Vorgesetzten oder eine unerwünschte Berührung vom Kunden: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist gang und gäbe. Eine Umfrage der Gewerkschaft Unia unter mehr als 800 Lernenden hat 2019 ergeben, dass ein Drittel der Befragten im Arbeitsalltag sexuell belästigt wurde. Betroffen waren vor allem – aber nicht nur – Frauen.
Besonders gefährdet sind Angestellte im Gastgewerbe. So kommt etwa die Studie «Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz» des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60) zum Schluss, dass «das Gastgewerbe […] zu den Branchen mit überdurchschnittlich vielen Vorfällen» gehört. Eine Auswertung der Fälle in der Datenbank der Deutschschweizer Fachstellen für Gleichstellung zeigt: Von 276 dokumentierten Fällen in Zusammenhang mit sexueller Belästigung stammen 45 aus dem Gastgewerbe. Ein unrühmlicher Spitzenplatz.
Da liest man etwa von der Servicemitarbeiterin aus dem Kanton Thurgau, deren Chef ihr gesagt hat, sie müsse sich sexy anziehen, um den Umsatz zu steigern, und der sie regelmässig gegen ihren Willen in der Nacht auf ihrem Zimmer besucht hat. Oder von der Angestellten aus dem Kanton Bern, der gekündigt wurde, nachdem sie in der Frauengarderobe eine heimlich installierte Überwachungskamera entdeckt und deswegen die Polizei eingeschaltet hatte.
Späte Arbeitszeiten, Alkohol und ein rauer Umgangston
In Gesprächen sei sie immer wieder schockiert, dass fast jede in der Branche tätige Frau bereits sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt habe und dass dies als «normal» gelte, sagt Claudia Stöckli, bei der Gewerkschaft Syna zuständig für das Gastgewerbe. Speziell für diese Branche problematisch seien die Arbeitszeiten und der Alkohol. Zudem seien die Vorgesetzten häufig keine Anhänger der Nulltoleranz.
Dass in der Küche oft generell ein rauer Umgang herrscht, ist der Sache nicht dienlich. Im Fall einer Praktikantin, welcher der Chefkoch unter anderem auf den Po geschlagen und ihr gesagt hatte, sie solle sich nach Feierabend vor der Mannschaft die Schamhaare rasieren, urteilte ein Gericht sogar, es handle sich nicht um sexuelle Belästigung, sondern um den üblichen rauen Umgang in der Küche.
«Die Vorgesetzten sind häufig keine Anhänger der Nulltoleranz.»
Claudia Stöckli
Mitglied der Geschäftsleitung der Gewerkschaft Syna
Doch ob ein Verhalten Belästigung darstellt oder noch im Rahmen ist, entscheiden nicht primär Richterinnen und Richter, sondern die Betroffenen selbst. Denn unabhängig davon, ob eine Tat die juristische Definition von sexueller Belästigung erfüllt oder nicht, haben solche Vorfälle für die Betroffenen oft weitreichende Folgen. Die erwähnte Praktikantin etwa litt monatelang an Panikattacken und musste ihre Ausbildung abbrechen, wie die «NZZ am Sonntag» berichtete.
Die NFP-Studie hat die Erfahrungen von 38 Frauen ausgewertet: Die Frauen berichteten von Angstzuständen, psychosomatischen Beschwerden und Kündigungen – knapp ein Fünftel der Frauen wurde im Zuge der Vorkommnisse entlassen.
Rund 30 Prozent der Frauen erlebten seitens der Vorgesetzten eine Verharmlosung oder Verkennung der Situation, so die Studie. Gleich vielen wurde die Schuld oder zumindest eine Mitschuld gegeben. «Er hat gemeint, ich sei selber schuld, damit müsse ich mit meinem Aussehen nun mal rechnen», wird eine Betroffene zitiert.
Arbeitgeber stehen gesetzlich in der Pflicht
Dabei ist die rechtliche Lage klar: «Arbeitgeber sind gesetzlich zum Schutz der Arbeitnehmenden vor Mobbing und sexueller Belästigung verpflichtet», hält der Verband HotellerieSuisse fest. Allein schon aus Eigeninteresse sollten Arbeitgebende dem Thema hohe Priorität beimessen. Denn – auch das zeigt die Studie – bei einem Drittel der Betroffenen sank nach den Übergriffen die Motivation, und ein Viertel berichtete von schlechteren Arbeitsleistungen. Zudem hat knapp ein Fünftel der Frauen die Stelle nach der Belästigung gekündigt.
Was Nulltoleranz bewirken kann, beschrieb die Gastrounternehmerin Erin Wade 2018 in einem viel beachteten Beitrag in der «Washington Post»: Weil 80 Prozent ihrer Kellnerinnen schon einmal sexuell belästigt worden waren, führte sie ein Ampelsystem ein. Auf der ersten Eskalationsstufe reicht bereits ein ungutes Gefühl der Bedienung, und sie kann sich am entsprechenden Tisch ablösen lassen. Die Zahl der Übergriffe danach: praktisch null.
Das können Arbeitgeber tun
Prävention Vorbeugend wirkt ein Dokument, das festhält, dass sexuelle Belästigung im Betrieb nicht geduldet wird und was sexuelle Belästigung ist. Es zeigt zudem Dienstwege und Hilfsangebote für Betroffene sowie mögliche Sanktionen für die belästigende Person auf. Das Dokument muss den Angestellten regelmässig in Erinnerung gerufen werden.
Anlaufstelle schaffen Betriebe können eine interne Ansprechperson definieren. Diese handelt vertraulich, hält den Vorfall schriftlich fest und weiss, wo die betroffene Person Hilfe erhält. Mit dem Einverständnis der betroffenen Person kann sie Gespräche mit den Vorgesetzten oder der belästigenden Person führen.
Betriebsinternes Verfahren In offensichtlichen Fällen sollte die belästigende Person sofort gestoppt, verwarnt, versetzt oder sogar entlassen werden. Ist der Vorwurf umstritten, bedarf es einer Untersuchung – vorzugsweise durch eine externe Fachperson. Wird der Verdacht bestätigt, sind je nach schwere des Falls entsprechende Sanktionen auszusprechen. Die belästigte Person hat zudem Anspruch auf Wiedergutmachung. Findet sich intern keine Lösung, kann die Schlichtungsstelle oder später ein Gericht angerufen werden.
Hilfe für Betroffene
Auf dem Portal belaestigt.ch erfahren Betroffene, wie sie sich gegen sexuelle Belästigung wehren können. Zudem gibt es dort individuelle Onlineberatungen in acht Sprachen.
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