Stephan Sigrist, der Hospitality Summit ist einer der ersten Grossanlässe der Branche, die nach langer Corona-Pause wieder live stattfinden werden. Sind solche Grossanlässe noch zeitgemäss?

Absolut. In einer Krise tendiert man dazu, die kurzfristigen Folgen überzubewerten. Es wäre jedoch ein grosser Fehler, zu denken, dass der direkte menschliche Austausch in Zukunft nicht mehr wichtig sein wird. Mit anderen Menschen zusammenkommen und den anderen «spüren» sind Grundbedürfnisse, die bleiben werden.

Ihr Thinktank W.I.R.E. berät Firmen rund um digitale Transformation und neue Geschäftsmodelle. Welche Dienstleistungen werden seit Ausbruch der Krise besonders nachgefragt?

Corona bringt einen eigentlichen Digitalisierungsschub in die Unternehmen. Wir erhalten viele Anfragen rund ums virtuelle Arbeiten, zur Automatisierung von Prozessen oder Datenprivatsphäre. Viele wollen zudem wissen, was die neue virtuelle Arbeitswelt für die Gestaltung der Büroräumlichkeiten bedeutet und welche Art von Führung jetzt gefragt ist. Auch das Thema Gesundheit spielt im Arbeitsalltag plötzlich eine grosse Rolle. Die Unternehmen sehen sich stärker als zuvor mit den Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeitenden konfrontiert.

«Ich hoffe, dass Schweizer Städte dank Corona den Aussenraum wiederentdecken.»

Stephan Sigrist W.I.R.E.

Bei der Digitalisierung schwingt immer auch die Angst mit, der Mensch könnte irgendwann überflüssig werden. Teilen Sie diese Sorge?

Nein, diese Einschätzung teile ich grundsätzlich nicht. Mehr als 150 Jahre Skalierung und Automatisierung haben gezeigt: Viele Berufe von früher sind zwar verschwunden, gleichzeitig sind aber zahlreiche neue Berufe entstanden. Der Mensch ist nicht überflüssig geworden. Die neuen technischen Möglichkeiten werden viel heisser gekocht, als sie anschliessend tatsächlich gegessen werden.

Zum Beispiel?

Künstliche Intelligenz wird überschätzt. Natürlich kann ein Algorithmus gewisse Aufgaben sehr viel schneller und effizienter lösen als ein Mensch. Aber gerade bei sehr komplexen Fragestellungen stossen diese Systeme schnell an ihre Grenzen. Selbst bei trivialen Dingen, zum Beispiel bei der Interpretation von Handbewegungen am Strassenrand oder der Unkrauterkennung im Garten. Das sind Bereiche, in denen selbst Jobs mit «weniger guten» Ausbildungen nicht so schnell verschwinden werden.

Trotzdem: Die menschliche «Hardware» ist seit Jahrtausenden die gleiche, jene aus Silikon wird laufend leistungsfähiger. Ist es nicht nur eine Frage der Zeit, bis Maschinen sämtliche Arbeiten besser ausführen können?

Vieles spricht dafür, dass ab einem gewissen Komplexitätsgrad auch Maschinen nicht bessere Voraussagen machen können als wir Menschen. Zum Beispiel bei der Vorhersage der Finanzmärkte oder des Wetters. Diese Vorgänge sind auch mit Hochleistungsrechnern nicht simulierbar. Da spielt der Zufall eine zu grosse Rolle, auf den wir spontan reagieren müssen. Das können Menschen mindestens gleich gut wie Computer.

Visionärer Stratege
Stephan Sigrist ist Trendforscher, Autor und Speaker am Hospitality Summit. Der Molekularbiologe ist Gründer und Leiter des Thinktanks W.I.R.E., der seit 2007 neue Entwicklungen, Trends und Innovationen für Organisationen und Entscheidungsträger in strategische Handlungsfelder übersetzt. 2020 hat Sigrist die Future Society Association lanciert, die auf inklusive Innovation setzt.
thewire.chfuturesociety.org

Welche Dienstleistungen und Produkte in der Hospitality-Branche sind nicht wegdigitalisierbar?

Die Frage ist nicht, was technisch machbar ist, sondern wo man mit Technik Nutzen stiften kann. Und das kommt sehr auf die Situation an: Wenn ich an der Réception zwanzig Minuten warten muss und dann unfreundlich begrüsst werde, bevorzuge ich einen Check-in-Automaten, der mich funktional durch den Prozess hindurchführt. In einem 5-Sterne-Hotel hingegen, für das ich viel bezahle und in dem man mich vielleicht bereits kennt, da möchte ich selbstverständlich von einem Menschen bedient werden. Überall dort, wo es um Wertschätzung und Emotionen geht, möchte man auch weiterhin mit Menschen zu tun haben. Das wird auch in hundert Jahren noch so sein – wenn es uns dann noch gibt.

Das Geschäftsmodell von Uber basierte auf der Annahme, dass sich selbstfahrende Autos schnell durchsetzen werden. Das ist bis jetzt nicht geschehen. Sehen Sie andere Modelle im Tourismusbereich, die auf falschen Annahmen basieren?

Uber stolpert nicht nur über die Tatsache, dass die vollautonomen Fahrzeuge noch nicht da sind, sondern auch über die gesellschaftlichen Folgen seines Geschäftsmodells. Der Fahrdienstvermittler dachte, er könne seine Fahrer einfach als selbstständige Unternehmer behandeln. Zumindest im europäischen Kontext haben die Gerichte nun klar entschieden, dass Uber-Fahrer Angestellte sind. Das macht das Geschäftsmodell von Uber unattraktiver. Airbnb ging es ähnlich: Man glaubte, man könne einfach nach Belieben Wohnungen vermieten, ohne irgendwelche Auflagen. Die Folge waren Proteste von Berlin bis Lissabon, weil die Plattformökonomie den Wohnraum verteuerte. Vielerorts wurde Airbnb daraufhin reguliert. Sowohl Uber als auch Airbnb hatten einzig den Kundennutzen im Blick und die gesamtgesellschaftliche Perspektive komplett vernachlässigt. Dafür erhalten sie nun die Quittung.

Programm und Early-Bird
Tickets ab sofort verfügbar. Das Programm für den Hospitality Summit steht. Am ersten Kongress der Schweizer Beherbergungsbranche diskutieren neben Stephan Sigrist zahlreiche weitere hochkarätige Speaker die neusten Trends, Entwicklungen und Auswege aus der Krise, darunter Thomas Jordan, Präsident des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank, und Maud Bailly, CEO von Accor Southern Europe. Am Ende des ersten Tages erwartet die Teilnehmenden die Ehrung des «Hotelier des Jahres 2021».
Ort und Datum: 7. und 8. September 2021 in der Halle 550 in Zürich-Oerlikon. Für Schnellentschlossene gibt es den 2-Tages-Pass zum Early-Bird-Tarif. HotellerieSuisse-Mitglieder profitieren von weiteren Vergünstigungen.
Kann der Hospitality Summit aufgrund der epidemiologischen Lage nicht durchgeführt werden, wird der volle Kaufpreis zurückerstattet.
hospitality-summit.ch

In Schweizer Städten poppen immer mehr private Velovermieter und E-Trottinetts auf. Ist dieser Trend nachhaltig?

Auch hier entsteht der Eindruck, dass das Ganze einzig von der technischen Warte aus gedacht ist. Sicher, es gibt einen Bedarf nach schnellen und unkomplizierten Transportmöglichkeiten. Solche Angebote haben ihren Platz in der Stadt der Zukunft, die nicht mehr auto-, sondern menschenbasiert ist. Aber einfach so ohne Rücksprache Tausende Billigvelos in einer Stadt aufzustellen, funktioniert nicht. Vandalismus und Regulierung sind die Folge. Auch hier müssen die Anbieter neben der technischen Machbarkeit weitere Aspekte wie die Lebensqualität und das Stadtbild berücksichtigen. Das nennt man «inklusive Innovation».

Was können uns die Städte nach Corona noch bieten?

Die Stadt hat ein riesiges Potenzial. Dazu muss sie sich jedoch nicht als blosse Infrastruktur verstehen, sondern als Erlebnisraum. Eine lebenswerte Stadt muss die Gesundheit ihrer Einwohnerinnen und Einwohner im Alltag fördern. Und zwar nicht über den Konsum, also durch den Gang ins Fitnesszentrum oder den Kauf eines Proteinshakes, sondern durch die Nutzung des gesamten Stadtraums. Corona ist in diesem Kontext spannend: In der Übergangsphase werden wir sehr viel mehr Zeit im Freien verbringen. Die Schweiz pflegte bisher einen eher zurückhaltenden und langweiligen Umgang mit dem öffentlichen Raum. Ich hoffe, dass Schweizer Städte dank Corona den Aussenraum wiederentdecken.

Was ist Ihre wichtigste Message, die Sie der Branche am Hospitality Summit mitgeben wollen?

Ohne Mut kommt man heute nirgends mehr hin. Die Schweiz hat in der Vergangenheit viele Pioniertaten geleistet, etwa bei der Erschliessung der Rigi – ohne Maschinen, dafür mit Ross und Esel – oder beim Bau des Gotthardtunnels. In den letzten Jahren dominierten dagegen die Sicherheitsorientierung und der Perfektionismus, der Mut ging etwas verloren. Das grössere Bild im Blick zu behalten, sich für etwas einzusetzen und es auch gegen Widerstände durchzuziehen – das ist die Schweiz, die ich mir wünsche. Und das wäre auch eine Schweiz, die sich im internationalen Tourismus stark positionieren könnte. Nicht, indem man das nachmacht, was alle anderen auch machen, sondern indem man seinen eigenen Weg geht.

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patrick timmann