Ramona Stucki hat gewagt, was viele wegen der Corona-Krise scheuen. Anfang August hat sie im Hotel Krone in Thun eine Lehre zur Hotelfachfrau begonnen – und dies im Alter von 34 Jahren. Dass eine erfahrene Marketingfachfrau mitten im Berufsleben ausgerechnet in die Beherbergungsbranche wechselt, hat natürlich Gründe.
Vor drei Jahren erlitt Ramona Stucki völlig unerwartet mehrere Schlaganfälle auf einmal. Sehr wahrscheinlich ausgelöst durch zu viel Stress im Job und eine erbliche Vorbelastung. «Heute bin ich wieder zu 80 Prozent arbeitsfähig, wenn der Tätigkeitsbereich meiner Behinderung angepasst ist. Denn nach einer Stunde am Computer wirds mir schwindlig, mein Hirn kann dann nichts mehr aufnehmen.»
Sinnhaftigkeit im Job
Bereits als sie sich vom Schlaganfall zu erholen begann, war für Ramona Stucki klar, dass sie gern wieder einen Beruf hätte, in dem sie mit Menschen arbeitet und der ihr vor allem wieder Sinnhaftigkeit gibt. Ein Neuanfang in der Beherbergungsbranche schien ihr dafür ideal. «Ich sehe jeden Abend, was ich den Tag durch geleistet habe.» Das erfreuliche Ergebnis: aufgeräumte Zimmer, gedeckte Tische, zufriedene Gäste. «Und meist habe ich es mit entspannten Menschen zu tun, weil sie in den Ferien sind.» Betrachtet man jedoch den aktuellen Fachkräftemangel, ist Ramona Stucki mit ihrer positiven Einstellung eher die Ausnahme.
«Ich sehe jeden Abend, was ich den Tag durch geleistet habe.»
Ramona Stucki, Quereinsteigerin und Lernende im Hotel Krone in Thun
Das Image der Branche leidet, seit der Corona-Krise erst recht. Gemäss einer Umfrage des Personalvermittlers Coople Ende Mai war die Hälfte der Befragten nicht überzeugt, wieder ins Gastgewerbe zurückzukehren. Zwei Drittel jener, die wegen der Pandemie ihren Job verloren hatten, waren bereits in einer anderen Branche angestellt. Die Gründe sind bekannt: tiefe Löhne, unflexible Arbeitszeiten, wenig Autonomie. Solche Einschränkungen kommen vor allem bei den 18- bis 25-Jährigen schlecht an. Die Generation Z ist beruflich ehrgeizig, aber nicht um jeden Preis. Flexibilität und Mitbestimmung im Job sind für sie kein Bonus, sondern die Voraussetzung.
[IMG 2]
Ein Kulturwandel ist nötig
Es müsste sich also einiges bewegen, damit das Gastgewerbe ein attraktiver Arbeitgeber wird. Denn vielerorts herrschen nach wie vor steile Hierarchien und starre Strukturen. «In den letzten 30 Jahren hat sich die Beherbergungsbranche in dieser Hinsicht noch zu wenig gewandelt», sagt Ueli Schneider, Geschäftsleitungsmitglied bei HotellerieSuisse.
Gleichzeitig gibt er zu bedenken: «Ein Kulturwandel braucht meist ein paar Generationen.» Doch die Zeit drängt, die Branche muss handeln, will sie die Jungen wieder an Bord holen. «Relativ rasch liessen sich etwa flexible Arbeitszeitmodelle einführen», ist Schneider überzeugt. «Junge Menschen wollen vielleicht statt der Zimmerstunde lieber einen Tag zwölf Stunden lang arbeiten, dafür drei Tage am Stück frei haben.» Einige Betriebe sind gemäss Schneider bereits erfolgreich in diese Richtung unterwegs.
Rockyourfuture.ch: HotellerieSuisse und Gastrosuisse lancieren mit der finanziellen Unterstützung vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation eine nationale Kampagne, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Das Projekt Rockyourfuture.ch wurde in nur drei Monaten aufgegleist und soll Jugendlichen die vielen Berufe der Branche näherbringen.Anlass sind die ersten nationalen Berufserkundungstage der Hotellerie und Gastronomie, die vom 18. bis zum 20. Oktober und vom 1. bis zum 3. November 2021 stattfinden. Auf dem Rockyourfuture-Programm stehen neben einem Schnuppertag diverse Berufsworkshops, Bewerbungscoaching, Elterninformationen und Betriebsführungen. «Es ist uns wichtig, dass die Jugendlichen authentische Einblicke erhalten», sagt Elian Schmid von HotellerieSuisse. Sie rechnet mit «zahlreich interessierten Betrieben», die teilnehmen werden. lm
rockyourfuture.ch
Damit man Quereinsteigerinnen wie Ramona Stucki motivieren kann, braucht es aber mehr. Nicht alle Mittdreissiger haben Lust, eine dreijährige Lehre zu absolvieren und mit Teenagern die Schulbank zu drücken. Auch Stucki hat diesbezüglich Bammel: «Ich stehe im Leben an einem ganz anderen Punkt als meine Schulgspänli.»
An Alternativen wird derzeit getüftelt. So hat zum Beispiel der Zürcher Hotelierverein gemeinsam mit HotellerieSuisse das Pilotprojekt «Quereinsteiger» lanciert. Innerhalb von sechs Monaten können Interessierte ein Ausbildungsprogramm absolvieren, bei dem sie sich fachliches Know-how aneignen. Mütter, die wieder in den Beruf einsteigen wollen, sollen sich genauso angesprochen fühlen wie die Generation 50 plus, die in der Freizeit gern kocht, oder jüngere, die sich beruflich umorientieren möchten. Mitte November startet das Projekt in zwölf Zürcher Betrieben mit dem Modul Küche, im Frühling sollen Service und Rezeption folgen.
«Mittelfristig müssen wir uns jedoch darauf einstellen, dass der Fachkräftemangel bestehen bleibt und wir noch andere Lösungsansätze finden müssen», sagt Ueli Schneider. Einen möglichen Ausweg sieht er in der Digitalisierung, etwa beim Check-in oder bei Bestellprozessen, die man automatisieren könne. «Gleichzeitig sollte die Branche vermehrt ungelernte, aber motivierte Leute rekrutieren.»
Charaktere statt Fachkräfte
Wie das erfolgreich funktioniert, haben internationale Hotelketten wie Citizen M oder 25hours vorgemacht. «Wir suchen Menschen, die unsere Werte teilen», sagt Ariane Clergue, Hotelmanagerin bei Citizen M in Zürich. Ob sie aus der Hotellerie kommen, ist zweitrangig. Die Mitarbeitenden werden intern ausgebildet, wobei Soft Skills gleich gefördert werden wie Fachwissen. Alle im Team werden an verschiedenen Posten eingesetzt, sei dies an der Rezeption oder an der Bar. Ausserdem können sie ihre Einsatzpläne mitbestimmten und den Postenturnus gemeinsam gestalten.
«In den letzten 30 Jahren hat sich die Beherbergungsbranche noch zu wenig gewandelt.»
Ueli Schneider, Geschäftsleitungsmitglied bei HotellerieSuisse
Solche Arbeitsbedingungen sprechen nicht nur die Generation Z an, sondern auch Erwachsene, die sich in ihren Jobs gefangen fühlen. «Das merken nun auch die kleinen und mittleren Betriebe und springen langsam auf diesen Trend auf», sagt Ueli Schneider. Einer von ihnen ist Chris Rosser, der im Dezember das Apart Hotel in Adelboden eröffnen wird. Sein Team von zwölf Personen, das neben dem Hotel und Restaurant auch einen Shop und die Onlineplattform «Digitale Einkaufsstrasse Adelboden» betreuen wird, hat er bereits beisammen. Über 90 Prozent sind Quereinsteiger, das Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren. «Es sind Leute aus der Verwaltung dabei, aus der Industrie und dem Pflegebereich», sagt Chris Rosser.
Mitarbeitende wollen mitbestimmen
Damit sein Quereinsteigerkonzept aufgeht, musste er aber erst die komplexen Gastgewerbestrukturen entschlacken. Sprich: Der Gastrobereich funktioniert dezentral, das Housekeeping sowie die gesamte Reinigung hat der Inhaber des Apart Hotels an eine externe Agentur ausgelagert. «Der Koch soll bei mir das Essen zubereiten und nicht auch noch zwei Stunden die Küche putzen», findet Rosser. Zusätzliche Anreize schafft der Hotelier durch ein bonusbasiertes Lohnsystem und flexible Einsatzpläne, die das Team selbst bestimmt. «All das bedingt natürlich die volle Transparenz bezüglich der Unternehmensziele», sagt Rosser. «Bei uns können zwar alle mitentscheiden, alle tragen aber auch die Verantwortung mit.»
«Der Koch soll bei mir das Essen zubereiten und nicht auch noch zwei Stunden die Küche putzen.»
Chris Rosser, Inhaber Apart Hotel Adelboden
Mitgestalten möchte auch Ramona Stucki. Gern würde sie im Hotel Krone irgendwann ihr Wissen «aus dem früheren Leben» einbringen, wie sie es nennt. «Mein Wunsch wäre eine Art Drehscheibenfunktion, bei der ich mein Marketing-Know-how mit den neuen Fähigkeiten verbinden kann.» Doch egal, wie es kommt – Ramona Stucki ist erst mal glücklich, wieder mitten im Berufsleben zu stehen. «Für diese Chance bin ich dem Hotel Krone sehr dankbar.»