«Haben Sie gewusst, dass Wiener Schnitzel das Lieblingsessen des einstigen Besitzers Jack Gauer war? Gault Millau hat es sogar dreimal zum besten Wiener Schnitzel der Schweiz ernannt.» So wird der Klassiker in Jack’s Brasserie im Stadtberner Hotel Schweizerhof angepriesen, in kleiner Portion zu 43 Franken, in der grossen zu 53 Franken. Dazu werden ein Kartoffel-Radieschen-Salat und kalt gerührte Preiselbeeren serviert. Schnitzel, Ambiance, Bedienung: Jacks’s Brasserie ist auf Augenhöhe mit Wiens «Schwarzem Kameel», einer Referenz in dieser delikaten Angelegenheit, die in Österreich so allgegenwärtig ist wie Kaiser-schmarrn: 30 Wiener Schnitzel verzehren die Österreicherinnen und Österreicher jährlich. Im Gegensatz zum Ausland muss das, was im Stammland als Wiener Schnitzel serviert wird, vom Kalb sein, wenn davon abgewichen wird, braucht es einen entsprechenden Hinweis.
Mit gut und gerne 60 Kilogramm Fleischverbrauch pro Kopf und Jahr spielen die Österreicher in der Champions League, und damit steht man zunehmend in der Kritik. Dies ist ein Grund, weshalb der Koch.Campus 2022 Kalbfleisch zum Thema machte. Der Koch.Campus ist eine Vereinigung, zu der rund 30 österreichische Spitzenköche und 30 Zulieferbetriebe, Hoteliers und Nahrungsmittelspezialisten gehören. Im Zentrum der Initiativen stehen der Wissens- und Erfahrungsaustausch sowie die gemeinsame Erforschung und Entwicklung regionaler Grundprodukte. Damit soll die österreichische Küche zeitgemäss interpretiert und auf der Basis von heimischen Grundprodukten international hochwertig positioniert werden. So lud man heuer zu einem Kalbfleischsymposium ein, in dessen Zentrum eine grosse Blindverkostung stand. Neun verschiedene präparierte Kalbsstotzen unterschiedlichster Herkunft wurden erst auf Farbe, Festigkeit und Struktur hin bewertet, anschliessend roh und gebraten verkostet und punktiert.
Niederländisches Kalbfleisch ist zwar weiss, schmeckt aber neutral.
Andreas Döllerer, Obmann des Koch.Campus und Wirt im «Golling» bei Salzburg
Doch weshalb hat sich der Koch.Campus ausgerechnet das Kalb vorgeknöpft? Ein Drittel allen Kalbfleisches, das in Österreich konsumiert wird, stammt heute aus Holland. Der Einfuhr von Kalbfleisch stehen jährlich 45 000 exportierte österreichische Kälber gegenüber. Hinter diesem ökologischen Widersinn steckt unter anderem ein Schönheitsmodell: weisses Fleisch. Die billige Produktion im EU-Ausland ist möglich, weil dort Kälber mit einer Mischung aus Wasser, Milchpulver und Palmöl gefüttert werden dürfen, obwohl dies eine qualifizierte Mangelernährung für die Tiere bedeutet.
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In Österreich hingegen schreibt das Gesetz vor, dass Kälbern ab einem gewissen Alter nicht nur Milch, sondern auch eisenhaltiges Raufutter wie Gras oder Heu gegeben werden muss. Das Fleisch ist dann rosarot, da Eisen das Fleisch färbt. «Fleisch, wie wir es aus niederländischer Produktion kennen, ist – wie nach wie vor von vielen gewünscht – wohl weiss, aber es schmeckt neutral, ist nichtssagend», sagt Andreas Döllerer, Obmann des Koch.Campus. Er steht im familieneigenen Restaurant in Golling am Herd, seine Küche ist den Falstaff-Kritikern 98 von 100 Punkten wert.
Bezüglich der Fleischherkunft besteht in Österreich für die Gastronomie – im Gegensatz zur Schweiz – noch keine Deklarationspflicht. «Ich hoffe, dass sich dies ändern wird», sagt Döllerer. Er schätzt, dass für einheimisches Kalbfleisch rund 30 Prozent mehr bezahlt wird als für Importware. Dies gilt in ähnlicher Grössenordnung gewiss auch für die Schweiz, und dennoch wird hierzulande der Bedarf zu 97 Prozent mit Einheimischem gedeckt. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Kalbfleisch ist in der Schweiz gering, es sind 2,3 Kilogramm von insgesamt 51 Kilo Jahresverbrauch – und dies hat Tradition.
Im «Fülscher heute» gibt es nur ein Rezept mit Kalbfleisch
Susanne Vögeli brachte 2013 zusammen mit Max Rigendinger Elisabeth Fülschers Kochbuch neu heraus, in nur gut 50 von 1700 Rezepten spielt Kalbfleisch eine Rolle. «Das Fülscher» gilt als eines der Standardwerke der Schweizer Küche, und im Herbst 2022 erschien im Hier-und-Jetzt-Verlag die Fortsetzung «Fülscher heute», dies zum 100-Jahr-Jubiläum der Rezeptsammlung. Im 400 Seiten starken Buch wird unter anderem erzählt, wie sich unser Verhältnis zum Tier wandelte. Susanne Vögeli kochte die Rezepte neu und passte sie den heutigen Gewohnheiten an. Nur bei einem greift sie zu Kalbfleisch: der Niere. «Sie hat weniger Eigengeschmack als diejenige anderer Tiere, was in diesem Fall angenehm ist», sagt sie. «Generell zeichnet sich Kalbfleisch durch dezente Aromen aus, was langweilig sein kann. Es passt gut zu Gaumen, die an Pouletbrüstchen gewöhnt sind. Kalbfleisch hat den Vorteil, dass es sich gut würzen lässt, und man dadurch das Gericht prägen kann.»
Zurzeit bearbeitet Susanne Vögeli eine Rezeptsammlung aus dem Jahr 1699. Diese stammt von der Stadtzürcherin Anna Marga-retha Kitt. In wohlhabenden Haushalten kam schon damals auch Kalbfleisch auf den Tisch, wie das Rezept zur Herstellung einer Kalberwurst zeigt. Dieses erinnert an die St. Galler Bratwurst, die weisse, ungeräucherte Brühwurst aus Kalb- und Schweinefleisch. Will sie eine St. Galler Kalbsbratwurst IGP sein, muss mindestens die Hälfte des verwendeten Fleischs vom Schweizer Kalb stammen, das ist etwa ein Drittel der Gesamtmasse, und sie muss in St. Gallen, im Thurgau oder einem der beiden Kantone Appenzell hergestellt worden sein. Die Sammlung «Kulinarisches Erbe der Schweiz» erwähnt nebst der St. Galler Bratwurst den Glarner Netzbraten und die Schützenwurst, bei denen Kalbfleisch Bestandteil ist.
Wir wollen zeigen, dass nicht nur die Edelstücke gut schmecken.
Markus Handau, Chefkoch im Romantik-Hotel Schweizerhof, Grindelwald
Zwei Köche, die ganzheitlich mit Kalbfleisch kochen
Das bekannteste Schweizer Gericht mit Kalbfleisch ist gewiss «Züri Gschnätzlets» oder «émincé de veau à la zurichoise», und dessen bedeutendster Botschafter ist ein Österreicher: Sepp Wimmer, Zunftwirt zur Waag in Zürich. Seit bald 20 Jah-ren prägt er das Zunfthaus am Münsterhof, wo er jährlich 16 000 Portionen «Züri Gschnätzlets» mit Rösti serviert. Dafür benötigt er 2400 Kilogramm Kalbfleisch von der Nuss, Teil des Stotzens, das er portioniert à 150 Gramm bezieht.
Zwei deutsche Köche arbeiten ganzheitlicher mit Kalbfleisch: Gero Porstein im Hotel Waldhaus in Sils-Maria und Markus Handau im Romantik-Hotel Schweizerhof in Grindelwald, beides 5-Sterne-Betriebe. Porstein kauft monatlich bei Bauern in der Umgebung 1 Rind, 1 Kalb und 200 Hühner. Den Bedarf an den Kalbfleischstücken Rücken, Backen und Filet stockt er monatlich mit 200 Kilo auf, Ware, die er über Wiederverkäufer bezieht. «Kalbfleisch ist natürlich ausgesprochen zart, und das gilt auch für die Second Cuts», sagt Porstein.
Chefkoch Markus Handaus Signature Dish ist sein Kalbsduett, angerichtet mit Pastinake, Schalotten und Schwarzwurzelespuma. Zum Filet setzt er als Kontrapunkt ein Ragout aus Herz, Leber, Schwanz, Schulter. «Wir wollen damit zeigen, dass nicht nur die sogenannten Edelstücke gut schmecken, und im Sinn der Nachhaltigkeit möglichst viel eines Tieres verwenden.» Alle Teile werden separat zubereitet, anschliessend fein geschnitten und die verschiedenen Saucen im idealen Verhältnis dazugegeben. Den Gästen mundets, und manch einer staunt, wenn er auf Nachfrage erfährt, was ihm alles serviert wurde.