Ein Jahr STV. Was sticht besonders heraus, wenn Sie auf Ihre noch junge Amtszeit als Direktor zurückschauen?
Wir konnten im vergangenen Jahr rund um die Covid-19-Situation in unterschiedlichen Belangen schnell und wirksam bei der Bundesverwaltung intervenieren und die Anliegen unseres Sektors einbringen. Ich denke hier vor allem an die rasche Einführung des Covid-Zertifikates für Gäste aus Drittstaaten im Oktober 2021 oder die Aufhebung der letzten Einreisehürden im April dieses Jahres. Im Allgemeinen konnten wir der breiten Bevölkerung die zentrale volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismussektors noch stärker aufzeigen. In drei Volksabstimmungen – zweimal ging es um das Covid-19-Gesetz, einmal um das Frontex-Referendum – haben wir als Tourismuskomitee gemeinsam mit unseren Partnern einen wichtigen Beitrag für erfolgreiche Kampagnen geleistet. Des Weiteren konnten wir die ersten Bausteine für unser Kompetenzzentrum Nachhaltigkeit (KONA) legen und sind operativ bereits mit dem Nachhaltigkeitsprogramm Swisstainable und dem Schweizer SDG Tourismus-Dialog tätig. Hier benötigt es viel Koordinationsarbeit mit unseren Partnern, aber wir sind auf einem sehr guten Weg.
Gibt es etwas, was Sie – im Nachhinein betrachtet – anders machen würden?
Im Nachhinein ist man für gewöhnlich meistens schlauer. Wichtig ist für mich, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern und auch im Team aus den vergangenen Erfahrungen die richtigen Schlüsse für die Zukunft mitnehmen. Bei gewissen Entwicklungen rund um die Covid-19-Pandemie hätte ich in Bezug auf die Interessensvertretung unseres Sektors rückblickend sicher noch früher antizipieren und somit schneller reagieren können.
Der Schweizer Tourismus hat harte Zeiten hinter sich, ist aber aktuell auf dem Weg der Erholung. Ist die Talsohle aus Ihrer Sicht überwunden?
Es ist sehr erfreulich, dass sich die Zahlen des Schweizer Tourismus wieder an das Vorkrisenniveau annähern. Dies spricht für die hohe Qualität entlang der gesamten touristischen Wertschöpfungskette und dafür, dass die Destination Schweiz im In- und Ausland weiterhin sehr beliebt ist. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass sowohl in den Städten als auch in den alpinen Regionen mit einem hohen Anteil an interkontinentalen Gästen, die asiatischen Touristinnen und Touristen weiterhin fehlen. Auch müssen wir die Auswirkungen der Inflation sowie der höheren Preise weiterhin genau beobachten. Der Tourismus ist abhängig von vielen externen Faktoren und diese sind im aktuell volatilen Marktumfeld genau zu beobachten.
Was sind Ihrer Ansicht nach die grössten Herausforderungen, die auf den Schweizer Tourismus warten?
Der individuelle Geschäftstourismus wird voraussichtlich nicht in der Form zurückkehren, wie wir ihn vor der Krise kannten. Home-Office und Videokonferenzen haben sich in diesem Segment bewährt. Gerade die Städte sind davon betroffen und sind hier gefragt, ihr Angebot mehr in Richtung Freizeit-Tourismus zu gestalten. Dies bedeutet gerade in der Infrastruktur der Hotellerie grössere Investitionen. Aber auch der Fachkräftemangel beschäftigt unseren Sektor stark. Weiter müssen wir in einem hart umkämpften Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben. Die touristischen Leistungserbringer müssen innovativ bleiben, um weiterhin profitabel arbeiten zu können. Für eine starke Positionierung im Wettbewerb spielt neben der Innovationskraft auch die Auseinandersetzung mit der Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle.
Als wichtiger Arbeitgeber und Wirtschaftsmotor benötigt der Schweizer Tourismus einen Dachverband, der die Interessen der gesamten touristischen Wertschöpfungskette vertritt.
Philipp Niederberger, Direktor Schweizer Tourismus-Verband
Der STV positioniert sich aktuell stark im Bereich der Nachhaltigkeit. Was wurde bereits erreicht?
Wir konnten einerseits mit unseren Partnern ein gemeinsames Commitment fassen und andererseits im Rahmen des KONA-Vorprojekts auch die konkreten Bedürfnisse des Tourismussektors in Bezug auf die Nachhaltigkeit abholen. Basierend auf diesen wertvollen Erkenntnissen ist es uns gelungen, das KONA strategisch zu positionieren, die Vision eines nachhaltigen Tourismuslands Schweiz zu festigen sowie konkrete Handlungsfelder im Bereich der Vernetzung, praktischen Umsetzung sowie des Reportings zu definieren. Ein wichtiger Meilenstein war die Integration der Geschäftsstelle des Nachhaltigkeitsprogramms Swisstainable im KONA. Nun können wir unser breites Netzwerk nützen und wollen so möglichst viele neue Teilnehmende akquirieren. Daneben bewirtschaften wir mit dem SDG Schweizer Tourismus-Dialog bereits ein erstes Nachhaltigkeitsnetzwerk auf LinkedIn, wo wir die verschiedenen Akteure im Tourismussektor zum Thema Nachhaltigkeit sensibilisieren wollen.
Und was sind die nächsten Ziele?
Jetzt geht es einerseits darum, die Strukturen des Kompetenzzentrums zu institutionalisieren, bestehenden Projekte wie beispielsweise Swisstainable weiterzuentwickeln und neue Projekte anzugehen. Wir verfolgen das Ziel, bis Ende 2022 insgesamt 1500 Betriebe für Swisstainable zu gewinnen. Da kommt viel Arbeit im Bereich der Akquise auf uns zu. Auch punkto Barrierefreiheit haben wir im Schweizer Tourismus mit der OK:GO-Initiative ein Leuchtturm-Projekt vorzuweisen, welches im Bereich der Inklusion einen wertvollen Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit leistet. Die Geschäftsstelle der OK:GO-Initiative soll voraussichtlich per Herbst 2022 ebenfalls ins Kompetenzzentrum integriert werden. Daneben haben wir uns zum Ziel gesetzt, ein erstes Projekt mit Fokus aufs Thema Nachhaltigkeitsreporting zu starten. Über all dem verfolgen wir gleichzeitig immer auch die Aufgabe, Synergien zu schaffen und den Wissenstransfer zu sichern.
Ebenfalls stark engagiert ist der STV im «Destination Lab» – einem Herzensprojekt von Ihnen. Wie zufrieden sind Sie mit dessen Verlauf?
Das Destination Lab hat zum Ziel, verschiedene Destination der Schweiz im Bereich der Produktentwicklung und Gästeberatung zu vernetzen und daraus neue innovative Pilotprojekte zu entwickeln. Zum jetzigen Zeitpunkt haben sich bereits 36 Destinationspartner angemeldet. Über das grosse Interesse freuen wir uns riesig und es bestätigt uns, dass wir mit dem Projekt auf ein grosses Bedürfnis im Sektor stossen. Besonders erfreulich ist die Vielfalt der angemeldeten Destinationen – alpine, ländliche und städtische Destinationen unterschiedlichster Grösse aus allen Sprachregionen der Schweiz sind vertreten. Wir freuen uns natürlich auch weiterhin auf neue Destinationspartner. Offizieller Projektstart ist im Herbst 2022.
Welches Potenzial sehen Sie für den STV in der unmittelbaren Zukunft und welche Schwerpunkte möchten Sie legen?
Als wichtiger Arbeitgeber und Wirtschaftsmotor benötigt der Schweizer Tourismus einen Dachverband, der die Interessen der gesamten touristischen Wertschöpfungskette vertritt. Diese Rolle wollen wir verstärkt wahrnehmen, sichtbar gegen aussen tragen und gemeinsam mit unseren Partnern einen zukunftsfähigen Tourismus gestalten. Zudem wollen wir die Schweiz als nachhaltiges Reiseland etablieren und in diesem Zusammenhang mit dem KONA einen wertvollen Beitrag leisten. In den Bereichen der Nachhaltigkeit, Innovation und Qualität wollen wir den Sektor dazu ermutigen, gemeinsam an Lösungen für die bevorstehenden Herausforderungen zu arbeiten. Dabei wollen wir auch unsere bestehenden Destinationslabels (Family und Wellness) sowie die Ferienwohnungsklassifikation weiterentwickeln und auf die Bedürfnisse im Sektor anpassen.
Wo sehen Sie den STV in drei bis fünf Jahren?
Der STV hat sich in diesem Zeitraum in meiner Wunschvorstellung als zentrale Drehscheibe für tourismuspolitische und touristische Anliegen im Sektor etabliert und leistet wertvolle Unterstützung in den Bereichen Nachhaltigkeit, Innovation und Qualität. Das Kompetenzzentrum Nachhaltigkeit ist gefestigt und entwickelt sich stetig weiter.
Eine persönliche Frage zum Schluss: Wo verbringen Sie im Jahr 2022 Ihre Sommerferien?
Für diesen Sommer habe ich neben einem längeren Aufenthalt in den Walliser Bergen vereinzelte kürzere Aufenthalte in der gesamten Schweiz eingeplant. Darauf freue ich mich besonders, da die Schweiz in ihrer einzigartigen Vielfältigkeit sehr viel zu bieten hat. Ende Juni reise ich zudem nach Slowenien, wo ich das Soča Tal zu Fuss erkunden und zum Abschluss ein paar Tage in Ljublijana verbringen werde. (htr/nde)
Das Interview erschien ursprünglich im STV-Newsletter.