Das Dorf liegt idyllisch in der lieblichen Appenzeller Landschaft, scheinbar zufällig sind rund zwanzig Häuser auf einer Hügelkuppe oberhalb von Trogen AR angeordnet. Man kennt das Kinderdorf Pestalozzi – weltweit. Das ist der Ort, wo Waisenkinder aus ganz Europa nach dem Weltkrieg ein neues Zuhause fanden und später andere Flüchtlingskinder unterkamen. Doch das ist lange her. Und heute?
«Im kollektiven Gedächtnis sind wir noch immer der Ort für Waisenkinder», sagt Martin Bachofner, Vorsitzender der Geschäftsleitung. «Doch diese Zeit ist schon lange vorbei. Kriegswaisen aufzuziehen, das ist nicht mehr unsere Aufgabe. Wir haben uns mit der Entwicklungszusammenarbeit mitentwickelt.»
Das Kinderdorf Pestalozzi ist heute ein Ort für Friedensförderung, Bildung und interkulturellen Austausch. Schulklassen und Jugendliche aus aller Welt führen hier Studienwochen durch. Den Kindern in Krisengebieten hilft die Stiftung nach wie vor: Sie engagiert sich vor Ort in zwölf Ländern weltweit. «Man hat erkannt, dass es sinnvoller ist, direkt in den betroffenen Gegenden zu helfen.» Im Ausland hat der Schweizer Spendenfranken auch mehr Wirkungskraft.
Mit Tourismus für mehr Aufmerksamkeit
Nun schlägt das Kinderdorf erneut einen neuen Weg ein – zumindest teilweise. Neben seinen Aufgaben als Bildungszentrum in Sachen Frieden will es sich im Tourismus etablieren: als Tagungszentrum, Seminarhotel und Ausflugsort für die ganze Familie. Ein paar traditionelle Appenzeller Häuser sind schon modernisiert, weitere werden renoviert und mit Einzel- und Zweierzimmern ausgestattet.
Im August wurde die Erlebniswelt im Dorf eingeweiht. Seither begrüssen Fotospots die Besuchenden, es hat eine Riesenkugelbahn, einen Balancierpfad, einen Kickloop-Track für Velo, Trottinett oder Rollbrett, und man kann mit dem Rätsel-Wimmelbild das Dorf rund um das Thema Kinderrechte erkunden. Im Besucherzentrum gibts zudem Kaffee und eine Spiellounge.
«Das ist eine extrem schöne Entwicklung. Es ist aber auch ein mutiger Weg.»
Andreas Frey, Appenzell Tourismus
Mehrwert für die gesamte Region Ostschweiz
«Aus touristischer Sicht ist dies sehr zu begrüssen», sagt Andreas Frey von der Appenzellerland Tourismus AG. «Ich halte es auch aus persönlicher Sicht für eine sinnvolle Ergänzung.» Nun werde das Dorf belebt. «Das ist eine extrem schöne Entwicklung. Man merkt, es weht ein anderer Spirit.» Und Frey fügt an: «Es ist aber auch ein mutiger Weg.»
Das Kinderdorf Pestalozzi im appenzellischen Trogen wurde 1946 gegründet, um Kriegswaisen aus ganz Europa aufzunehmen. Später fanden Kinder in Not aus aller Welt hier ein neues Zuhause, und es wurden Projekte mit asiatischen und afrikanischen Kindern, die schon in der Schweiz lebten, umgesetzt. 1982 wurde die Auslandhilfe gegründet, die Stiftung ist mittlerweile in 12 Ländern weltweit tätig. 1992 wurden mit 34 bosnischen Heimkindern und 8 Betreuern letztmals Kinder direkt aus dem Ausland permanent aufgenommen. 2014 wurde das Schul- und Wohnangebot mangels Auslastung geschlossen. Seit März 2022 sind in einigen Häusern geflüchtete Familien aus der Ukraine untergebracht. Heute werden im Kinderdorf hauptsächlich interkulturelle Bildungsprojekte durchgeführt. Jährlich nehmen über 2000 Kinder und Jugendliche an den ausserschulischen Projekten teil. pestalozzi.ch
Im Dorf arbeiten viele Leute mit einer sehr intrinsischen Motivation für die Friedensförderung. Da kann die Ausweitung auf touristische Aktivitäten als zu kommerziell empfunden werden. Das Dorf wendet sich aber nicht von seinem humanitären Grundgedanken ab. Die Aktivitäten im touristischen Bereich sind eine Ergänzung, kein Umkrempeln. «Wir machen hier ja nicht Disneyland», sagt Bachofner.
Handfeste Gründe, warum sich Tourismus lohnt
Mit dem touristischen Angebot will das Dorf einerseits selbsttragend werden, andererseits will es durch die grössere Bekanntheit mehr Leute für seine Anliegen gewinnen und damit neue Spender akquirieren. «Das ist etwas ganz anderes, als einfach Broschüren zu drucken», sagt Bachofner. Denn auf dem Spendenmarkt gibt es immer mehr Mitbewerber – man muss sich also für die Zukunft wappnen.
Wer einen Sonntagsausflug in das neue «Erlebnisdorf» macht, wird möglicherweise auf die Tagungsmöglichkeiten aufmerksam. Das Kinderdorf eignet sich für gewisse Seminare besonders gut: «Für kleinere Anlässe wie Kreativworkshops, Strategie- oder Personalentwicklung», erklärt Markus Berger von Schweiz Tourismus. Das Kinderdorf sei wegen seiner Abgeschiedenheit ideal für Retraiten. «Es befindet sich mitten in der Natur, ist per ÖV aber gut erschlossen und von den Zentren nicht weit entfernt.»
Alternative Unterkunft mit dem gewissen Etwas
Die Gäste müssten aber wissen, dass sie kein Seminarhotel mit allem Schnickschnack erwarte. «Man erlebt hier etwas anderes», sagt Frey. «Es ist ein Ort mit Bedeutung, und davon sind die Seminarteilnehmenden oft begeistert.» Die Unterkünfte sind einfach, kochen kann man selbst oder in der dorfeigenen Küche ein Catering bestellen. Es kämen nun vermehrt Anfragen von Corporate-Responsibility-Abteilungen, die ihre Workshops an einem Ort durchführen wollten, der sich der sozialen Nachhaltigkeit verschrieben habe, so Bachofner.
Das Kinderdorf Pestalozzi ist eines von 30 Seminarhotels der Seminarland Ostschweiz GmbH, die Lokalitäten aus der ganzen Ostschweiz vermarktet. «Wir stellen fest, dass die ökologische und die soziale Nachhaltigkeit auch bei Tagungs- und Seminarangeboten eine immer grössere Rolle spielen», sagt Bettina Güntensperger von Seminarland Ostschweiz. Damit die Gäste zufrieden sind, muss hier vor allem das Erwartungsmanagement stimmen. Und das scheint offenbar gut zu klappen.
Thomas Kirchhofer von St. Gallen-Bodensee Tourismus hält das Angebot im Kinderdorf für die gesamte Region Ostschweiz für sehr wertvoll: «Unsere Gäste bewegen sich innerhalb der gesamten Ostschweiz, von der Alpsteinregion bis zur Seenlandschaft am Bodensee. Das Dorf ist eine hervorragende Ergänzung im touristischen Angebot. Es ist schweizweit ein Begriff und weckt positive Assoziationen.» Er sieht den Tourismus als Multiplikator, der ideell einen Ort wie das Kinderdorf verkörpert: «Es wird erlebbar gemacht.»
«Das Dorf vertritt Werte, für die auch wir einstehen.»
Markus Berger, Leiter Unternehmenskommunikation Schweiz Tourismus
Für die Marketingorganisation Schweiz Tourismus ist es egal, ob ein Anbieter sozial, rein kommerziell oder politisch ausgerichtet ist, ein Angebot muss allem voran gut sein. Idealerweise wirken dabei aber Synergien. «Mit ähnlichen Botschaften ist man einander nützlich», sagt Markus Berger. «Das Dorf vertritt Werte, für die auch wir einstehen: Nachhaltigkeit im sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Es steht auch für Natur, ÖV-Nähe und ein kreatives Umfeld.»
Im Frieden unterwegs
Das Appenzellerland ist viel mehr als eine folkloristische «Kuhschweiz» – und man ist stolz darauf. So sind die Friedensförderung und das humanitäre Engagement ein wichtiges Thema in der Region. Die «Appenzeller Friedens-Stationen» zwischen Heiden und Walzenhausen laden zu einer lehrreichen Wanderung ein, auf der man viel Wissenswertes über humanitär aktive Schweizerinnen und Schweizern lernt. Und in Heiden befindet sich das Henry-Dunant-Museum, welches das Leben und Wirken des Initianten des IKRK zeigt. Henry Dunant verbrachte fast zwei Jahrzehnte am Ende seines Lebens in Heiden.
friedens-stationen.ch
dunant-museum.ch