Vor acht Jahren stürzte der passionierte Gleitschirmpilot Stephan Gmür bei einem Routineflug zwanzig Meter in die Tiefe und zog sich eine komplette L1-Querschnittlähmung zu. Dem Gastronomen wurde bald klar, dass er künftig seinen angestammten Beruf in der Hotellerie und Gastronomie im Rollstuhl nicht mehr so würde ausüben können, wie er dies gerne gemacht hätte. Auf der Suche nach einem neuen Job wurde er bei der Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair AG (TESSVM) fündig.
«Das Timing war perfekt. Unser damaliger Direktor Urs Wohler wollte die Zusammenarbeit mit dem Verein Barrierefreie Schweiz vorantreiben. So wurde ich kurzum zum Produktmanager Barrierefrei bei der TESSVM», so Gmür. Sein Jobprofil gab es bisher nicht. In der Schweizer Tourismusbranche ist der Produktmanager Barrierefrei Stephan Gmür noch der Einzige seiner Art.
Von den Herausforderungen einer Behinderung sprechen kann man erst, wenn man sie erlebt und selbst betroffen ist.
Stephan Gmür, Productmanager Barrierefrei, TESSVM
Im engen Austausch mit Gästen und Leistungspartnern
Der typische Arbeitstag von Stephan Gmür ist vielseitig und umfasst sowohl die Gäste- als auch die Branchenberatung. Dabei stösst er immer wieder behindertengerechte Tourismusprojekte an, unterstützt beim hindernisfreien Bauen und testet neue Infrastrukturen. Projektinitiativen wie beispielsweise die Beschaffung geländetauglicher Rollstühle oder Neu- und Umbauten der Bergbahnen werden mithilfe von Gmürs Expertise und seinem Netzwerk von Behindertenorganisationen wie etwa der Stiftung für das cerebral gelähmte Kind realisiert.
Aber auch die Gäste profitieren. Gmür weiss um die Hürden und Grenzen, denen Menschen mit Mobilitätseinschränkungen beim Reisen und im Urlaub begegnen. «Dadurch, dass ich als Ansprechperson mit Behinderung die Gäste bei der Aufenthaltsplanung berate, erübrigen sich für sie bereits viele Kommunikationshemmschwellen.»
Noch gibt es keine Ausbildungsmöglichkeiten zum Produktmanager Barrierefrei an einer Tourismusfachschule. Für Gmür würde ein spezialisierter Lehrgang auch keinen Sinn ergeben. «Denn von den Herausforderungen einer Behinderung sprechen kann man erst, wenn man sie erlebt und selbst betroffen ist.»
Vielmehr wünscht er sich, dass mehr Menschen mit Behinderungen in die Tourismusbranche einsteigen und ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus dem Alltag so in die Destinationen hinaustragen. «Dafür braucht es aber Tourismusregionen, die bereit sind, Menschen mit Behinderungen anzustellen und ihre Erfahrungen zu nutzen. Das wäre dann Inklusion auf der ganzen Ebene», sagt Gmür.
Marktpotenzial barrierefreier Tourismus
260 Millionen Menschen werden in der EU laut europäischer Reisestudie als potenzielle Kundinnen und Kunden für barrierefreies Reisen geschätzt.
20% Prozent der Schweizer Bevölkerung sind laut Bundesamt für Statistik auf barrierefreie Infrastrukturen angewiesen. 2030 könnten es 30 % sein.
780 Milliarden Euro beträgt das Marktvolumen für Reisen von Menschen mit Behinderungen oder Seniorinnen und Senioren im EU-Raum laut einer europäischen Reisestudie.
780 Millionen Tages- oder Mehrtagesreisen werden laut der Stiftung Claire & George jährlich innerhalb der EU von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen unternommen. Durchschnittlich sind 1,5 Betreuerinnen oder Betreuer dabei.
768 Schweizer Beherbergungsbetriebe wurden bislang von HotellerieSuisse und der Stiftung Claire & George auf Barrierefreiheit geprüft. Ihre Infrastruktur wurde als bedingt barrierefrei oder barrierefrei eingestuft.
Grosses Marktpotenzial, Tendenz steigend
Seiner Lieblingsfreizeitbeschäftigung, dem Sport, bleibt Stephan Gmür auch mit seiner Behinderung treu. Man trifft den 37-Jährigen oft im, am und auf dem Wasser oder am Berg an. Schweizweit könnten es ihm viele Menschen mit Mobilitätseinschränkungen gleichtun. Gemäss Bundesamt für Statistik leben in der Schweiz rund 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen.
Von ihnen reisen rund 1,3 Millionen regelmässig. Zudem leben in der Schweiz seit 2020 mehr Menschen über 65 Jahre als Menschen, die jünger als 20 Jahre sind. Bis 2035 werden Seniorinnen und Senioren gar 35 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Bevölkerungsstatistiken in unseren Nachbarländern weisen vergleichbare Zahlen auf.
Mit Blick auf das Marktpotenzial tut die Tourismusbranche also gut daran, entsprechende barrierefreie Angebote rechtzeitig zu realisieren und gezielt zu kommunizieren. Aber auch bei der Umsetzung des 2004 in Kraft getretenen Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) steht die Branche in der Pflicht. Bis Ende 2023 müssen demnach bauliche Massnahmen an allen öffentlich zugänglichen Bauten, Anlagen und Fahrzeugen behindertengerecht sein.
Der Touristiker Gmür weiss um die Mammutaufgabe, die damit auf die Branche zukommt. Denn mit den vorgeschriebenen baulichen Anpassungen ist es noch längst nicht getan. Was bringt es, einen Rollstuhlfahrer auf den Berg zu bringen, wenn oben die barrierefreie Infrastruktur von der Toilette bis zum Freizeitangebot fehlt?
«Es braucht vermehrt Tourismusregionen, die Menschen mit Behinderungen anstellen und ihre Erfahrungen nutzen.»
Stephan Gmür, Productmanager Barrierefrei, TESSVM
Ohne Umwege und Stolpersteine zur Barrierefreiheit
Noch liegen keine Zahlen zur Rentabilität des barrierefreien Angebots bei der TESSVM vor. Für Gmür steht das Marktpotenzial des barrierefreien Tourismus aber ausser Frage. «Die wenigsten von uns Betroffenen arbeiten Vollzeit. Eine Auszeit unter der Woche ist also durchaus möglich.[RELATED]
Dies kommt wiederum der Beherbergungsbranche zugute und dient auch der Saisonverlängerung.» Ein interessanter Aspekt sei aber auch die Stammkundenbildung. Denn jede Neuorientierung ist für Menschen mit Behinderungen mit Mehraufwand verbunden. «Wer die barrierefreien Angebote in einer Region einmal kennen und schätzen gelernt hat, bleibt ihr höchstwahrscheinlich treu.»
Die barrierefreien Tourismusangebote der Ferienregion Engadin Scuol Zernez umfassen heute Wanderungen, Mono- oder Dualski-Fahrten, Badespass oder Dorfführungen sowie Angebote aus Kultur und Kunst. Möglich ist im barrierefreien Tourismus also vieles, doch es geht noch mehr. Zwar werden dem Gast alle Angebote auf der Website von Engadin.com vermittelt, sie sind aber noch auf einer separaten Landingpage zu finden. Gmürs langfristiges Ziel: Inklusion im Tourismus noch sichtbarer zu machen, ohne Umwege oder Stolpersteine.