Herr und Frau Schweizer waren glücklich, dass die Pandemie in diesem Sommer weit weg schien und das Reisen im In- wie auch im Ausland wieder einfacher wurde. Dafür sprechen die neusten Zahlen (siehe Box unten), die Schweiz Tourismus (ST) vergangene Woche präsentiert hat. Was die Statistik allerdings nicht verrät: Alle Player aus dem Tourismus kämpfen im Moment parallel mit acht ernsthaften Krisen, die das Geschäft und den Alltag massiv beeinflussen. «Eine derartige Häufung habe ich bisher noch nie erlebt», sagte ST-Direktor Martin Nydegger. Er ist überzeugt, dass die Branche diese Herausforderungen meistern wird, aber es werde ein «sehr langer und steiniger Weg».
Mit Corona haben viele gelernt zu leben, doch die Pandemie schwelt weiter. Gerade die Städte (Luzern –33 %, Lausanne –21 %) stecken noch knietief in dieser Krise. Mit der Jogging-Kampagne «Run the Swiss Cities» möchte ST Gegensteuer geben und Geschäftsreisende dazu motivieren, ein paar freie Tage anzuhängen und diverse Orte rennend zu entdecken. «Denn immerhin», sagt Martin Nydegger, «sind sie für zwanzig Prozent unseres Tourismus verantwortlich.»
Zu wenig Energie, Material und Fachpersonal
Weit schwieriger zu beurteilen ist, was die Energieknappheit im Winter für Auswirkungen haben wird. Erste Stimmen aus der Politik fordern notfalls die Abschaltung von Bergbahnen und Schneekanonen. Das Fehlen der Gäste hätte auch Konsequenzen für Anbieter wie Beizen, Hotels oder Skischulen. So oder so werden die Preise für die Energieversorgung steigen: «Die höheren Kosten drücken auf die Marge – oder müssen an die Gäste weitergegeben werden», erläutert Martin Nydegger die unschönen Massnahmen. Teurer und mühseliger wird auch das (Um-)Bauen: Wer heute in seinen Betrieb investieren will, wartet wegen Beschaffungsengpässen teilweise Monate auf Materialien wie Holzdielen, Metallteile oder Elektrogeräte. Diese bremsen den Erneuerungsprozess weiter aus und verschärfen den eh schon vorhandenen Investitionsstau.
Und seit geraumer Zeit ächzt die Branche unter Fachkräftemangel. Zu wenig Personal führt dazu, dass trotz vieler Sommergäste der eine oder andere Betrieb seine Öffnungszeiten anpassen und die Menükarte zusammenstreichen musste. «Das ist absurd», ärgert sich der ST-Chef. Ausgerechnet jetzt, nach zwei Jahren Pandemie und einem Nachfragestopp, der ins Gegenteil dreht.
Sorge um Klima, Kriegswirren und Finanzen
Neu sind auch die Diskussionen rund um den Klimawandel nicht. Doch der Hitzesommer 2022 hat aufgezeigt, wie wichtig dieses Thema ist – auch für den Tourismus und die Frage, wie sich die Rahmenbedingungen und Bedürfnisse ändern werden. Dazu kommen Sicherheits- und Nachahmerfragen, welche die Unruhen in der Ukraine mit sich bringen. Martin Nydegger ist überzeugt: «Ein Krieg so nahe bei uns wirkt sich auch auf unsere Tourismuswelt aus.» So mancher Interessent aus Übersee wird sich sagen: In Europa sind Flüchtlingsströme unterwegs – will ich da wirklich auf Reisen gehen? Und schliesslich sorgen auch der historisch tiefe Eurokurs und die Inflation dafür, dass das Ferienland Schweiz für viele noch teurer wird.
Und jetzt? Der ST-Direktor ist trotz allem zuversichtlich, dass die Branche all diese Herausforderungen meistert. Denn: «Wir sind Unruhen gewohnt – irgendwo tätschts oder klemmts immer.»
Frühestens 2024 wird sich die Lage normalisieren
Wie geht es unseren Seilbahnen, den Museen, Parks und Hotels? Schweiz Tourismus hat in der Branche eine Umfrage lanciert – und die erste Bilanz 2022 fällt durchzogen aus.
Sommer 2022: Es ist keine Überraschung: Nach zwei Jahren geprägt von Corona-Einschränkungen zog es Schweizer Gäste diesen Sommer wieder vermehrt ins Ausland. So verzeichnet das Bundesamt für Statistik bei den Hotellogiernächten im Juli bei Einheimischen ein Minus von 10 Prozent im Vergleich zum Spitzenvorjahr; das sind aber immer noch 17 Prozent mehr als 2019. Reisende aus dem Ausland finden zwar den Weg zurück in die Schweiz, primär Gäste aus Frankreich und Deutschland. Doch im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie fehlen hier noch immer rund 15 Prozent der damaligen Logiernächte. Ein guter Sommer war es indes für die Seilbahnen: Sie verbuchen im Juli satte 50 Prozent mehr Umsatz.
Erstes Halbjahr: Die ersten sechs Monate 2022 waren noch immer stark geprägt von Corona-Massnahmen. Bei den Logiernächten von Schweizer Gästen gibt es Regionen, die auf der Gewinnerseite stehen – wie das Tessin (+34 %), Jura-Dreiseenland (+24 %) oder Graubünden (+21 %). Die Städte leiden nach wie vor. Bei den ausländischen Gästen ist nach wie vor ein Minus von rund 32 Prozent zu verzeichnen. Besonders bemerkenswert ist der Rückgang bei Überseestaaten wie China (–93 %), Indien (–85 %) und Korea (–77 %).
Ausblick: Tourismusexperten gehen davon aus, dass die Schweiz über alle Gästegruppen gesehen erst 2024 wieder das Level von 2019 erreichen wird. Anhaltend hohe Logiernächtezahlen von Einheimischen etablieren sich, Gäste aus Europa kehren nach und nach zurück. Einzig bei der Kundschaft aus Übersee dauert es länger: Da wird 2025 mit einer Rückkehr von 92 Prozent im Vergleich zur Vor-Coronazeit gerechnet.