Seit 100 Jahren bewertet der Guide Michelin – heute in weit über 100 Ländern der Welt – die Kochkünste von Restaurants und zeichnet diese mit Sternen aus. Zuerst prüfen Inspektoren die Betriebe anonym, anschliessend wertet ein Expertenteam deren Resultate aus. Nun soll in der Hotellerie das gleiche Prüfverfahren umgesetzt werden – statt Sternen werden Schlüssel verwendet.
Vom Bewerten eines Kunsthandwerkes zum Bewerten der Infrastruktur
Das Michelin-Rating der Hotellerie basiert auf den Bewertungen der Innenausstattung, der Architektur, der Individualität und Authentizität und der beständigen Qualität bei Service, Komfort und Wartung. Weiter sollen die Betriebe zum lokalen Erlebnis beitragen und einen aussergewöhnlichen Aufenthalt zum richtigen Preis anbieten.
Mit der Bewertung der Infrastruktur muss sich der Guide Michelin aber neue Kompetenzen aufbauen. Zudem wird sich den Inspektoren nicht – wie in der Gastronomie – die ganze Angebotspalette erschliessen: Abgesehen vom gebuchten Zimmer bleiben die Türen verschlossen. Die Beurteilung des Kernangebots der Hotellerie kann deshalb nur punktuell erfolgen. Auch das aussergewöhnliche Erlebnis und der korrekte Preis sind, im weltweiten Vergleich, schwer zu werten. Der Guide Michelin steht bei der Gesamtbetrachtung der Hotellerie also vor neuen Herausforderungen.
Ein Bewertungssystem mit kommerziellem Hintergrund
Wo früher das rote Buch die Referenz war, sind heute die Website und die App die Anlaufstellen der Michelin-Community. Was zu kommerziellen Versuchungen führt: Neu ist auf der Website des Guide Michelin ein Buchungsportal integriert; ein Online-Travel-Agent, der separat auch unter dem Brand Tablet Hotels agiert. Zu lesen ist auf der Website etwa von den «Hotelexperten des Guide Michelin». Da es sich um ein «auswahlbasiertes Onlinereisebüro» handle, soll also nicht jeder Betrieb aufgenommen werden können.
Hierzu muss man wissen: Der Guide Michelin hat Tablet Hotels 2018 übernommen. Dahinter steht ein Geschäftsmodell, bei dem Hotels weitgehend übliche Verpflichtungen eingehen: nicht rückerstattbare Eintrittsgebühr von 250 USD für die Prüfung, Kommission auf allen nachfolgenden Buchungen von mindestens 15 Prozent, Gewährung der Best-Price-Garantie durch die Betriebe und eine minimale Bewertung im eigenen Bewertungstool, um die Aufschaltung im Portal aufrechtzuerhalten – mindestens 16 von 20 Punkten. Aktuell sind mehr als 100 Hotels in der Schweiz buchbar, die auch auf der Website des Guide Michelin sichtbar sind.
Hier besteht die Gefahr, dass die Kernkompetenz der Unabhängigkeit verwässert wird. Denn eine kommerzielle Buchungsplattform muss, um auf ein breites Kundeninteresse zu stossen, eine minimale Anzahl von Betrieben und eine möglichst lückenlose Abdeckung der Regionen vorweisen. Damit verbunden stellt sich – im Vergleich mit den Restaurants – auch die Frage der künftigen Relevanz des Guide-Michelin-Hotelportefeuilles. Es ist nämlich möglich, dass bei den Hotels im Guide Michelin schrittweise die Sicht der «minimalen Masse» vor der «maximalen Klasse» Einzug halten wird. Damit aber ginge die scharfe Positionierung des Portefeuilles verloren.
Ein Massenangebot oder die Möglichkeit, sich von der Masse abzuheben
Auf den ersten Blick ist der Einstieg des Guide Michelin in die Bewertung der Hotellerie eine Chance: Hotels können aus der grossen Masse herausstechen und sich weltweit positionieren. Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn das Primat der Unabhängigkeit der Prüfung weiterhin gilt.
Der Guide Michelin verfügt dafür über die Voraussetzungen, muss aber Hürden überwinden. Zum einen muss die in der Schweiz nicht erlaubte «Best- Price-Garantie» sofort behoben werden. Andererseits muss es dem Guide Michelin gelingen, den kommerziellen Teil der Buchungsplattform von der unabhängigen Auszeichnung zu trennen. Wenn dies gelingt, werden die Schlüssel des Guide Michelin eine Option für die Hotelbetriebe sein, um sich von der grossen Masse abzuheben. Gelingt dies nicht, verkauft der Guide Michelin seine Seele.
Daniel Beerli ist eidg. dipl. Hotelier, Immobilienbewerter und Leiter der Schweizer Hotelklassifikation bei HotellerieSuisse