Wiedereröffnung

«Der Wiederaufbau war eine Operation am offenen Herz»

Ein Jahr lang bauten Reto und Alexandra Invernizzi ihr Hotel Landgasthof Kemmeriboden Bad mit ihrem Team wieder auf. Kurz vor der Eröffnung am 3. Juli überwiegen Dankbarkeit und Stolz.

Nora Devenish

Zehn Monate nach der verheerenden Umwelt­katastrophe in Schangnau stehen Alexandra und Reto Invernizzi im Hotel Land- gasthof Kemmeriboden Bad kurz vor der Wiedereröffnung. Ab dem 3. Juli empfangen sie wieder Gäste. «Wir sind unglaublich stolz, dass wir es so weit geschafft haben. Wir sind auch sehr dankbar. Dass wir unser Haus wieder aufbauen durften, ist nicht selbstverständlich», sagt Reto Invernizzi. Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Blick sei in diesem Moment nach vorne gerichtet und dennoch habe das letzte Jahr Spuren hinterlassen: «Wir haben abgerissen, geplant, bewilligt und gebaut. Alles passierte zur selben Zeit. Der Wiederaufbau war eine Operation am offenen Herz.»

Neuanfang aus Freude an der Gastgebertradition
Innert weniger Minuten hat Familie Invernizzi am 4. Juli 2022 durch eine gewaltige Flutwelle der Emme fast alles verloren. Verletzt wurde niemand. Doch das Lebenswerk von sechs Generationen der Hoteliersfamilie Invernizzi in Kemmeriboden Bad wurde arg auf die Probe gestellt. Aufgeben war für die Hoteliers keine Option. «Anfangs überkam uns ein Gefühl der Entwurzelung. Die Flut hat uns die Bodenhaftung genommen. Kemmeriboden Bad ist aber ein Kulturerbe, das es verdient, weitergeschrieben zu werden», so Reto Invernizzi. Für ihn und seine Frau war trotz des grossen Verlusts schnell klar, dass dieses Schicksal auch Chancen birgt.

So konnten Raumaufteilungen und Prozessabläufe im Zuge des Wiederaufbaus überdacht und optimiert werden. «Solche Entscheide, geschweige denn Arbeiten, sind während des laufenden Betriebs kaum möglich», weiss Invernizzi. Im «Kemmeriboden Bad» wurde beispielsweise die Kunden-, Gäste- und Mitarbeitendenlenkung durch die verschiedenen Betriebsbereiche verbessert. Ausserdem hat man die Möglichkeit wahrgenommen, zeitgemässe energietechnische Infrastrukturen in die fast 200 Jahre alten Gebäude einzubauen. Laut Invernizzi ist mit dem Wiederaufbau der Grundstein für die siebte Kemmeriboden-Bad-Generation gesetzt. Auch ihre Meinung floss in den Umbau mit ein: Den Standort des neuen Kinderspielplatzes legten Invernizzis Töchter fest.

Verantwortungsvoller Umgang mit den Mitarbeitenden
Die Gästenachfrage und das Interesse der Öffentlichkeit am «Kemmeriboden Bad» sind bereits vor der Wiedereröffnung gross. Trotz der unternehmerischen Verlockung wollen die Emmentaler Hoteliers die Rückkehr ins Tagesgeschäft für sich und ihre Mitarbeitenden bewusst «achtsam» und «Schritt für Schritt» gestalten. Das sei man dem Team, welches die Familie während der letzten Monate tatkräftig unterstützt habe, schuldig, sagt Invernizzi. «Es wäre verheerend, jetzt Fehler zu machen und unsere Mitarbeitenden zu überfordern. Was bringt mir ein neuer Betrieb ohne Mitarbeitende?» Es sei elementar, die Balance zwischen der Gästenachfrage und den neu zu erlernenden Ablaufprozessen im Einklang mit den Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu finden. «Das Wichtigste ist, dass wir auch weiterhin Spass haben an dem, was wir machen.»

Es wäre verheerend, jetzt Fehler zu machen und unsere Mitarbeitenden zu überfordern. Was bringt mir ein neuer Betrieb ohne Mitarbeitende?

Rund 50 Mitarbeitende hielten dem «Kemmeriboden Bad» nach der Überflutung die Treue, 80 Prozent des Teams. «Sie alle packten dort an, wo wir sie gerade brauchten, und nahmen fast ein Jahr lang neue Funktionen wahr. Dafür sind wir ihnen sehr dankbar. Jetzt ist es aber Zeit, dass sie sich wieder vollkommen ihren angestammten Tätigkeiten und Berufen widmen können.» Auch während der Umbauphase sei ihm immer wieder das Ausmass des Fachkräftemangels vor Augen geführt worden. «Unsere Mitarbeitenden waren während dieser Zeit von unseren Branchenkolleginnen und -kollegen stark umworben. Umso mehr freut es uns, dass sie grösstenteils geblieben sind.»

Als Hotelier des Jahres 2022 zum Krisenmanager
«Wir haben im vergangenen Jahr unglaublich viel gelernt. Diese Zeit war ein grosser Meilenstein in unserer Geschichte – als Unternehmen und als Familie.» Er selbst habe vor allem gelernt, zu akzeptieren und Hilfe anzunehmen, sagt Invernizzi. Auf den anfänglichen Schock folgten im «Kemmeriboden Bad» die Phasen Chaos, Resignation und schliesslich Vision. «Sobald du akzeptierst, was passiert ist, ändert sich dein Verhalten. Das ist ein intrinsischer Prozess, den jeder für sich selbst durchlaufen muss und von existenzieller Wichtigkeit sein kann.» Innert kürzester Zeit habe er für die verschiedensten Prozesse Fachwissen generieren müssen, sei zwischenzeitlich zum Bau- und Versicherungsverständigen geworden, sagt Invernizzi. Auf der Suche nach Lösungsansätzen für den Wiederaufbau sei er keinem vergleichbaren Fall in der Beherbergungsbranche begegnet.  

Wir sind unglaublich stolz, dass wir es so weit geschafft haben. Das ist nicht selbstverständlich.

Wenige Tage vor der Naturkatastrophe durften Alexandra und Reto Invernizzi am letztjährigen Hospitality Summit die Auszeichnung «Hoteliers des Jahres 2022» entgegennehmen. Sie wurden für ihre Vorbildfunktion und nachhaltige Managementleistung, ihre Originalität und Innovation, kurzum für ihre Verdienste für die nationale Hotellerie geehrt. Von ihren Branchenkolleginnen und -kollegen erhielten sie an der Gala Standing Ovations. Reto Invernizzi: «Wenn wir damals gewusst hätten, was uns bevorsteht...»

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Comeback

Kemmeriboden Bad 2.0

Das Gastgeberehepaar Reto und Alexandra Invernizzi empfängt ab dem 3. Juli wieder Gäste in ihrem Hotel Landgasthof Kemmeriboden Bad in Schangnau. Das Hotel wird sieben Tage die Woche offen sein, das Restaurant neu für Nicht-Hotelgäste jeweils von Donnerstag bis Sonntag. «Uns ist es wichtig, zusammen mit der Region zurückzukommen», sagt Reto Invernizzi. Am 4. August findet ein offizielles Fest im «Kemmeriboden Bad» mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Wirtschaft statt. An den beiden darauffolgenden Tagen wird auch die Öffentlichkeit an ein Wilerfest eingeladen.

Charakter bleibt erhalten
Die meisten Instandstellungsarbeiten fielen im Erdgeschoss und im Garten an. Neben den Holzdecken im Bedlisaal und in der Gaststube konnten auch die Wände in der Gaststube gerettet werden. Aus dem alten Chäs­spycher entstand eine Wellness-Suite. Für die Öffentlichkeit gibt es Führungen durch die neuen Räumlichkeiten. Nähere Informationen findet man auf der Hotel-Website. Invernizzi hadert nicht mit der Natur. «Sie hat uns viel genommen, aber auch unglaublich viel gegeben.» Infolge der Flut erarbeiteten die Behörden zusammen mit den Bauherrschaften einen neuen Hochwasserschutz, um weitere Vorfälle künftig verhindern zu können. Der Schutzbau soll zeitgleich mit der Eröffnung des «Kemmeriboden Bad» fertiggestellt werden.
kemmeriboden.ch