In ihren Gastronomiebetrieben in Bern arbeiten Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammen. Das Besondere daran: Dies sind keine subventionierten Projekte, sondern wirtschaftlich funktionierende GmbHs, die Steuern bezahlen. Dazu gehören die Restaurants Fabrique 28 und das Provisorium 46, der Foodtruck Copine 76 und mehrere Pop-ups. Die Geschäftsführenden Jonas Staub (47) und Kristina Grbesic (36) erzählen, warum ihr Konzept nicht nur erfolgreich, sondern vor allem ganz normal ist.
Sie sind Geschäftsführende mehrerer Gastronomiebetriebe in Bern. Je gut ein Drittel der Angestellten sind Menschen mit Beeinträchtigung. Doch Unterstützungsgelder erhalten Sie keine. Wie funktioniert das?
Jonas Staub: Ganz einfach, wie jedes andere Restaurant: Die Qualität des Essens stimmt, das Interieur ist schön und das Personal freundlich – es ist eine Umgebung, in der man sich wohlfühlt. So kommen die Gäste zurück.Kristina Grbesic: Es stimmt nicht, dass Arbeitsstellen für Menschen mit Beeinträchtigung nur mit Unterstützungsgeldern funktionieren. Man muss sich von dieser Vorstellung lösen, dafür braucht es bloss etwas Fantasie.
Und doch: Was ist anders in Ihren Restaurants?
Jonas Staub: Die Inklusion findet hinter den Kulissen statt. In der Küche haben wir beispielsweise wegen einer sehbehinderten Mitarbeiterin ein stärkeres, helleres Licht installiert. Unsere Abläufe sind gut strukturiert und sehr klar, damit auch Menschen mit schwachen kognitiven Fähigkeiten alles verstehen. Und wir investieren viel in die Kommunikation: Wir machen klare, einfache Sätze, die für alle verständlich sind.Kristina Grbesic: Was wir speziell für die Menschen mit Beeinträchtigung tun, wirkt sich auf alle positiv aus. Es ist beispielsweise wichtig, dass wir immer Ordnung im Getränkekeller haben. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen können sonst überfordert sein. Die Ordnung ist ein Vorteil für alle, wir sind effizienter.
Es stimmt nicht, dass inklusive Betriebe nur mit Unterstützungsgeldern funktionieren können.
Und operativ?
Kristina Grbesic: Es ist elementar, dass bei der Organisation der operativen Abläufe alle einbezogen werden. Wir überlegen zusammen, wie man was gestalten kann. So kann man Unlogisches und Kompliziertes ausmerzen.
Viele Leute haben das Vorurteil, dass man Menschen mit Beeinträchtigung nur bedingt einsetzen kann.
Kristina Grbesic: Alle Mitarbeitenden werden ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt. Jeder Mensch und jede Beeinträchtigung ist anders.Jonas Staub: Man muss nicht die Mängel betonen, sondern die Kompetenzen anschauen. Die Lernende in der «Fabrique 28» hat beispielsweise kognitive Beeinträchtigungen, es gibt aber viele Arbeiten, die sie machen kann: Sie deckt die Tische auf, bringt Wasser, räumt ab, hilft die Gläser polieren und abwaschen. Sie unterhält sich auch gerne mit Gästen, wenn sie eine Frage nicht versteht, weiss sie, wen sie dafür holen muss.
Wie werden Ihre Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung entlöhnt?
Jonas Staub: Auch hier gilt: Alle sind gleichgestellt, es werden alle nach ihren Leistungen entlöhnt. Braucht eine Mitarbeitende drei Stunden, um die Tische aufzudecken, und nicht nur eine, wird sie dementsprechend entlöhnt, das heisst ihr Stundenlohn ist kleiner. Dies bestimmen wir individuell und ist oft etwas kompliziert – auch wegen der rechtlichen Richtlinien und Vorgaben.
Man hat kein Bild von Menschen mit Beeinträchtigung, weil man normalerweise keinen Kontakt zuihnen hat.
Funktioniert das Konzept, weil Menschen mit Beeinträchtigung weniger verdienen?
Jonas Staub: Diese Frage musste kommen! Nein, es funktioniert, weil wir Qualität bieten. Wegen der Inklusion werden zudem mehr Menschen auf uns aufmerksam und kommen zu uns. Kristina Grbesic: Die Inklusion ist ein Vorteil und bietet in vielen Dingen einen Mehrwert. Es ist ganz einfach: Mit einer breiten Diversität spricht man auch eine breitere Masse an.
Was antworten Sie, wenn Ihnen jemand vorwirft, Menschen mit Beeinträchtigung auszunützen?
Jonas Staub: Ich erkläre, dass wir Menschen mit Beeinträchtigung eine Stelle im ersten Arbeitsmarkt geben, dass wir auf Augenhöhe mit ihnen zusammenarbeiten und sie in ihrer Selbstständigkeit unterstützen. Wir befähigen Menschen auf unterschiedlichste Art und ermuntern sie sogar, mit uns Lohnerhöhungsgespräche zu führen.
Sie sind Vorreiter in Sachen Inklusion, indem Sie diese systematisch und innerhalb der Leistungswirtschaft umsetzen. Warum tun das andere Betriebe nicht auch schon längst?
Jonas Staub: Weil in unserer Gesellschaft die Vorstellung davon fehlt, dass so etwas klappen könnte. Man hat keine Bilder von Menschen mit Beeinträchtigung, weil man normalerweise keinen Kontakt zu ihnen hat. Wie soll man dann auf die Idee kommen, dass man sie ganz normal integrieren kann? Kristina Grbesic: Man ist es nicht gewohnt, dass sich Menschen mit Beeinträchtigung unter uns befinden. Damit es normal ist, muss man diese Erfahrung machen können und eigene Barrieren und Berührungsängste abbauen.
Inklusion oder Integration?
Der Begriff Inklusion beschreibt in der Soziologie den Einbezug von Menschen in die Gesellschaft. Integration beschreibt einen dynamischen, Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens. Die Begriffe Inklusion und Integration werden oft gleichbedeutend verwendet, verwechselt oder vermischt. Inklusion bedeutet, eine Umgebung zu schaffen, die allen Menschen gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht. Integration bedeutet Zugehörigkeit, die mit Anpassung an die Umgebung einhergeht.
Aber das Konzept führt doch bestimmt zu einigem Mehraufwand?
Jonas Staub: In gewissen Dingen schon. Wer bei uns anfängt und ein spezielles Coaching braucht, erhält dies. Das sind die einzigen Mehrkosten, die von diversen Stiftungen übernommen werden. Ansonsten wird der Zusatzaufwand mit Mehreinnahmen wettgemacht.
Welche Mehreinnahmen?
Jonas Staub: Dank der Inklusion haben wir mehr Gäste. Es gibt Firmen, die deswegen bei uns buchen, weil sie finden, dass es hier menschlicher und freundlicher ist als anderswo.Kristina Grbesic: Wir wollen aber die Inklusion gar nicht betonen. Es soll selbstverständlich sein, dass hier auch Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten. Wir nennen es das Normalisierungsprinzip. Wie schon Jonas gesagt hat: Wir sind ein ganz normales Restaurant. [IMG 2]
Gibt es solche, die wegen der Inklusion nicht bei Ihnen essen?
Jonas Staub: Es kam schon vor, dass jemand für ein Catering anfragte, dann aber feststellte, dass wir ein inklusiver Betrieb sind – und dann kein Interesse mehr hatte, bei uns zu buchen. Man traut es uns nicht zu, dass wir hochstehende Küche anbieten können. Doch auch da verändert sich etwas. Stefan Wälti, Koch im Berner 15-Punkte-Restaurant Essort, wechselt ins «Provisorium 46». Bei uns sind auch ehrgeizige Küche und Fine Dining möglich.
Es scheint viele Vorurteile zu geben.
Jonas Staub: Sehr viele. Man glaubt beispielsweise, Menschen mit Beeinträchtigung seien zu oft krank oder könnten ihre Leistung nicht erbringen. Es gibt weltweit Untersuchungen, die diese Vorurteile widerlegen.Kristina Grbesic: Es ist nicht so, dass sie nicht leistungsfähig sind, sie erbringen in ihrem Bereich ihre volle Leistung.
Jonas Staub, wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, Restaurants zu eröffnen?
Ich habe lange als Sozialpädagoge in Institutionen gearbeitet. An einem gewissen Punkt habe ich gemerkt, dass das System so nicht stimmt: Wir schaffen Abhängigkeiten, statt Selbstständigkeit zu fördern. Ich fand, wir müssen unsere Arbeit revolutionieren!
Und dann?
Ich habe mich selbstständig gemacht und inklusive Freizeitprojekte ins Leben gerufen. Das war ein Erfolg. Dann habe ich gemerkt: Es braucht ein dauerhaftes Angebot. Ich wollte zeigen, dass Inklusion auch im Leistungssektor funktioniert. Kaum jemand glaubte, dass das ohne staatliches Geld möglich ist. Doch wir haben das Gegenteil bewiesen. Nun sind wir stolze Steuerzahler.
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?
Jonas Staub: Unsere Strategie heisst Wachstum. Wir wollen in anderen Schweizer Städten präsent sein und von anderen kopiert werden.
Was treibt Sie an?
Jonas Staub: Lust an Innovation und Veränderung des Systems, Sinnhaftigkeit.Kristina Grbesic: Jeder Mensch will gebraucht werden.
Zwei für alle Fälle
Jonas Staub (47) ist ausgebildeter Sozialpädagoge und Gärtner. Der Berner hat 2005 den Verein Blindspot gegründet, der sich für Inklusion und Vielfaltsförderung in der Schweiz einsetzt. Dazu gehören unter anderem inklusive Schul- und Freizeitprojekte. 2016 hat er mit dem «Provisorium 46» in Bern den ersten inklusiven, wirtschaftlichen Gastronomiebetrieb gegründet. Später kamen die «Fabrique 28», der Foodtruck Copine 76 und die Pop-ups Bar 8 und Hof 17 dazu. Die Geschäftsführung teilt er mit Kristina Grbesic (36). Die Bernerin kam 2017 als Restaurantleiterin des «Provisorium 46» dazu. Heute kümmert sie sich um das Personelle und Administrative, während er die Finanzen betreut. Die Gastronomieunternehmen sind eigenständige GmbHs, die sie auf Mandatsbasis betreuen. Sie arbeiten zudem beide Teilzeit für Blindspot. Jonas Staub berät Firmen zu Social Entrepreneurship und Inklusion und nimmt an sechs Universitäten in der Schweiz Lehraufträge zum Thema wahr. [RELATED]
Inklusion macht Schule
Für HotellerieSuisse sind Inklusion, Diversity und Barrierefreiheit wichtige und hochaktuelle Themen. Der Verband erarbeitet derzeit mit der Fachhochschule Graubünden (FHGR) neue Lösungen, um die Inklusion in der Hotellerie voranzutreiben. In einem ersten Workshop mit Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, Hotelièren, Hoteliers, Mitarbeitenden von Stiftungen und Fachleuten für Inklusion wurde eine Projektskizze erstellt. Dabei hat man die Ansprüche der Beteiligten definiert, ist der Frage nachgegangen, wie die Betriebe an die interessierten Mitarbeitenden mit Beeinträchtigung gelangen und welches die grössten Schwierigkeiten sind. Es zeigte sich, dass der administrative Aufwand und die gesetzlichen Richtlinien die grössten Herausforderungen darstellen. Die Integration im Team wird hingegen stets positiv und als grosser Mehrwert betrachtet. Ein Pluspunkt sei auch die langfristige Bindung der Mitarbeitenden an das Unternehmen.
Ziel des Projekts sind die praktische Umsetzung, die Sensibilisierung der Branche sowie das Testing in Pilotbetrieben. Aus den Erkenntnissen wird ein praktischer Leitfaden entstehen. «Der Arbeitsmarkt soll für Diversität und Inklusion fit gemacht werden – und nicht umgekehrt», sagt Janine Bolliger von HS. Sie weiss auch, dass die Umsetzung in der Praxis nicht immer ganz einfach ist, vor allem, was den Lohn und die Abklärungen mit der IV betrifft.
Sonja Oehler, Geschäftsführerin des Ferienhotels Bodensee, ebenfalls in der Projektgruppe, beschäftigt seit vier Jahren einen Mitarbeitenden mit einer geistigen Beeinträchtigung, seit Frühling 2022 einen zweiten. «Es ist extrem lehrreich für die Gäste und Mitarbeitenden – und auch immer wieder sehr lustig für alle», sagt die Hotelière mit einem Lachen. «Wir gewinnen alle sehr viel. Und die Gäste akzeptieren unsere Mitarbeitenden voll und ganz.» Das einzige Hindernis für den Betrieb – dafür ein grosses – ist die Art der Anstellung. Die Richtlinien der IV und die Vorgaben des L-GAV sind kompliziert. Oehler hat in ihrem Hotel das Problem nun so gelöst, dass die beiden als Arbeitskräfte von ihrem Wohnheim temporär ausgemietet werden. «Es ist schade, gibt es keine einfacheren Lösungen.» Denn die Menschen mit Beeinträchtigung wollen ernsthaft im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Oehler weiss: «In der Gastronomie gäbe es viele Plätze für sie.»
Weitere Informationen
- Profil: Die Stiftung begleitet Menschen mit Handicap in den ersten Arbeitsmarkt.
- Enableme: Jobportal für Menschen mit Behinderungen.
- Compasso: Orientierungs- und Handlungshilfen für Arbeitgebende.
- Sensability: Fachstelle für Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion mit Schulungsangeboten und Beratungen für Unternehmen.
- Tourismus mitenand: Informationen und Checklisten für Arbeitgebende und Mitarbeitende in der Hospitality. tourismus-