Zuhinterst im Valle Muggio eröffnet in Scudellate am 22. Juni ein spezielles Hotel: Ein «Albergo diffuso», auf Deutsch «verstreutes Hotel». Es ist das erste dieser Art im Tessin. Das bereits bestehende Dorfrestaurant wurde komplett renoviert und fungiert neu als Réception, Speisesaal und Mini-Hotel. Ein ehemaliges Schulhaus gleich gegenüber wurde zum Gästehaus mit vier Mehrbettzimmern umgebaut. In der Nähe entsteht ein etwas gehobeneres Bed & Breakfast, das nächstes Jahr eröffnen wird. So können bis zu 30 Gäste im Dorf übernachten, später gar gegen 50. Für das verschlafene Bergdorf, das kaum noch 20 ganzjährige Bewohner zählt, bedeutet die Eröffnung des Albergo diffuso eine komplette Neuausrichtung.
[IMG 4] Spezielle Herausforderung für ehrenamtlichen Experten der Berghilfe
Das Projekt ist auch für die Schweizer Berghilfe nicht alltäglich. «Ich wurde von der Geschäftsstelle vorgewarnt, dass da ein grosses Projekt käme», erinnert sich der fürs Tessin zuständige Berghilfe-Experte Aurelio Casanova. Er selbst wohnt zwar im Kanton Graubünden, spricht aber fliessend Italienisch. Zur Berghilfe kam er vor drei Jahren, kurz nach seiner Pensionierung als Ingenieur und Geometer. Casanova ist einer von aktuell 32 ehrenamtlichen Experten und Expertinnen, die jedes Projekt vor Ort im Berggebiet prüfen. So kann die Berghilfe pro Jahr 500 bis 600 Projekte mit über 30 Millionen Franken Spendengelder unterstützen. «Als dann die Gesuchsunterlagen in drei Couverts eintrafen – jedes fünf Zentimeter dick – bin ich schon etwas erschrocken», sagt Casanova. Normalerweise seien die Projekte im Tessin eher kleiner. Oft betreffe es Stallbauten oder kleine Gewerbeprojekte. «Aber für dieses komplexe Projekt, das ein ganzes Dorf quasi auf den Kopf stellt, brauchte ich das gesamte Knowhow aus meinem ehemaligen Berufsleben», erklärt Casanova, «und ich war sehr froh, dass mich Eva Brechtbühl, unsere Fachexpertin Tourismus, bei der Beurteilung tatkräftig unterstützte.»
Die Stiftung
Die Schweizer Berghilfe ist eine ausschliesslich durch Spenden finanzierte Stiftung mit dem Ziel, die Existenzgrundlagen und Lebensbedingungen der Schweizer Bergbevölkerung zu verbessern. Die Unterstützung trägt dazu bei, der Abwanderung aus dem Berggebiet entgegenzuwirken. Die Unterstützung der Schweizer Berghilfe löst ein Mehrfaches an Investitionen aus, die primär beim lokalen Gewerbe Wertschöpfung und Arbeitsplätze schaffen. Die Schweizer Berghilfe trägt das Gütesiegel der Stiftung Zewo.
Spezielle Lage und engagiertes Projektteam
Casanova analysierte die Dokumente und besuchte das Projekt. «Als ich das erste Mal von Chiasso her hinauffuhr, merkte ich schon bei der Anreise: Das hintere Valle Muggio und das Dorf Scudellate haben eine spezielle Kraft», erzählt er, «innert 20 Minuten ist man in einer völlig anderen Welt, in einem kleinen, authentischen, verwinkelten Dorf, nur noch von Grün umgeben. Und zuhinterst thront der Monte Generoso.» Die Begegnung mit den engagierten, kompetenten Initianten habe ihn dann vollends überzeugt. «Dieses aussergewöhnliche Tourismusprojekt hat grosses Potenzial», sagt Casanova.
Den Anstoss zum Albergo diffuso hatte Oscar Piffaretti gegeben. Seine Eltern führten das Dorfrestaurant in zweiter Generation. Doch sie und das Gebäude wurden langsam alt. «Aber ich konnte mir nicht vorstellen, das Restaurant einfach aufzugeben», sagt er, «der Ort ist zu schön. Es ist meine Heimat». Doch der Betrieb alleine hätte wenig Überlebenschancen gehabt. Es fehlten zusätzliche Übernachtungsmöglichkeiten. Im ehemaligen, zu einem Lagerhaus umgebauten Schulhaus sah Piffaretti eine Chance. Zusammen mit seinem Arbeitskollegen Claudio Zanini gründete er die Stiftung «Fondazione per la salvaguardia dell'alta Valle di Muggio». Diese erhielt das Baurecht für das Schulhaus und liess es zu einem Gästehaus umbauen. Zudem wird ein paar Häuser weiter ein Gebäude in ein Bed & Breakfast umgebaut.
«Wir wissen aus Erfahrung, dass der Tourismus ein guter Weg ist, um Wertschöpfung in abgelegene Gebiete zu bringen.»
Berghilfe-Experte Aurelio Casanova
«Wir wissen aus Erfahrung, dass der Tourismus ein guter Weg ist, um Wertschöpfung in abgelegene Gebiete zu bringen», sagt Casanova. «Zentral dabei ist, dass Übernachtungen generiert werden können.» Ziel der Stiftung Schweizer Berghilfe ist es, langfristig belebte Berggebiete zu haben. Das geht aber nur, wenn die Menschen in den Bergen ein Auskommen finden. Mit dem speziellen, zukunftsfähigen Projekt Albergo diffuso in Scudellate werden mindestens vier dringend benötigte Arbeitsplätze geschaffen. (htr/bbe)