Gadmen liegt auf rund 1200 Metern über Meer im Berner Oberland und ist das Daheim von 200 Menschen, die hier entlang der Passstrasse Richtung Susten leben. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Bergdorf das gleiche Schicksal erlebt wie viele andere Alpentäler auch: Die Jungen zogen weg, die Bevölkerung überalterte, nach und nach schlossen Poststelle, Schulhaus und Lädeli.
Die Gemeinde fusionierte 2014 mit dem gut zehn Kilometer talwärts liegenden Innertkirchen – und dadurch kam vieles ins Rollen. Unter anderem beschäftigte die Frage, was mit der seit 2013 leer stehenden Schule mitten im Dorf passieren soll. «Uns war von Beginn weg bewusst, dass dies eine sehr emotionale Angelegenheit ist», erzählt Thomas Huber, der sich damals als Gemeinderat um dieses Projekt kümmerte. Generationen von Gadmerinnen und Gadmern haben hier das Einmaleins gelernt und über Diktaten geschwitzt. Sie alle fühlen sich mit dem Schulgebäude verbunden.
Schule wird zum Hotel
Als dann die Idee aufkam, dieses zum Hotel umzunutzen, gab es für die Verantwortlichen nur einen richtigen Weg: «Wir haben eine Genossenschaft gegründet und den Einheimischen so ermöglicht, selber Teil dieses Vorhabens zu werden.» Tagesgäste hat die Region mit ihrem sanften, nachhaltigen Naturtourismus schon immer angezogen, doch lange fehlte ein Ganzjahresbetrieb für Übernachtungen.
«Die Gründung einer Genossenschaft hat entscheidend zum Erfolg beigetragen.»
Thomas Huber, Präsident der Genossenschaft Gadmer Lodge
Rund 4 Millionen Franken hat das Projekt gekostet. Nebst dem Umbau der Schulzimmer wurden die alten Lehrerwohnungen abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Entstanden sind so ein Restaurant, elf moderne Hotelzimmer und zehn Mehrbettzimmer für Gruppen – alles in allem gut 80 Schlafplätze. Und wer einen Event oder ein grösseres Fest plant, kann die benachbarte Mehrzweckhalle gleich dazumieten.
1,5 Millionen Franken Fremdkapital stecken heute noch in der Gadmer Lodge, finanzielle Unterstützung gab es vom Lotteriefonds und der Schweizer Berghilfe sowie von privaten Stiftungen. Zudem gehören der Genossenschaft rund 300 Personen an, die für insgesamt 420'000 Franken Anteilsscheine gezeichnet haben. «Über 80 Prozent davon sind Einheimische», sagt Thomas Huber, der heute als Präsident der Genossenschaft amtet.
Engagierte Einheimische
Die ersten Genossenschafter überhaupt waren Sandra und Aristo von Weissenfluh – auch wenn von den Plänen nicht alle in der Familie gleichermassen begeistert waren. «Also ich fand es am Anfang schon ein etwas gar grosses Projekt für ein so kleines Dorf», gibt sie unumwunden zu. Ob man sich das leisten könne? Und auf die Dauer auch stemmen?
«Wir haben viel diskutiert», sagt er. Doch der Junior habe sich stark für die Hotelpläne engagiert, so wie viele Junge im Dorf. Da müsse man der nächsten Generation auch mal vertrauen. «Wir haben ja jahrelang gesehen, was passiert, wenn niemand etwas unternimmt», findet er.
«An den Wochenenden sind wir oft ausgebucht; wir haben bereits viele Stammgäste.»
Silvia Kaufmann, Pächterin der Gadmer Lodge
Im September 2019 hat die neue Lodge ihre Türen geöffnet, Silvia Kaufmann leitet den Betrieb seither als Pächterin der Genossenschaft. «Wir sind aus dem Nichts gestartet; eine spannende Erfahrung», erzählt die gebürtige Gadmerin. Sie legt Wert auf regionale Produkte und Lieferanten, authentische Gerichte und faire Preise. Denn nur so könne sie nebst den auswärtigen Gästen auch auf die Bedürfnisse der Einheimischen eingehen, «und alles andere wäre in unserer Situation überheblich». Ein Glücksfall, dass selbst ihre Mitarbeitenden aus der Gegend kommen.
Lokaler Kreislauf
Auf regionale Vernetzung setzt auch Ernst Abplanalp schon sein ganzes Leben lang. Zusammen mit seiner Frau und seinem Bruder hat er über 45 Jahre die Metzgerei in Innertkirchen geführt, Beizen und Hotels beliefert; auch die Gadmer Lodge. Selbstverständlich ist er Genossenschafter, denn «als Gewerbetreibender unterstützte ich stets Projekte und Leute in unserer Region». Gingen die Schnitzel am Samstagabend mal aus, stand er am Sonntagmorgen mit Nachschub vor der Tür.
«Früher war es hier in der Nacht still und dunkel. Heute lädt das freundlich erleuchtete Gasthaus zum Verweilen ein»
Sandra und Aristo von Weissenfluh, Genossenschafterfamilie
«Wir müssen einander helfen», bekräftigt er, damit der wirtschaftliche Kreislauf in Schwung bleibe: Der Bauer hat dank lokaler Fleischabnehmer weniger Aufwand, der Metzger kann Mitarbeitende anstellen, diese wiederum mieten Wohnungen und zahlen in der Region Steuern. «Am Schluss profitieren alle davon.»
Mit ihrem Team hat Silvia Kaufmann einen erfolgreichen Start erlebt. Trotz der Aufbauphase und trotz Schliessungen wegen der Corona-Pandemie belief sich der Umsatz in den ersten beiden Betriebsjahren auf je eine Million Franken. «Gerade auch die Gastronomie hat hervorragend gearbeitet», lobt Genossenschaftspräsident Huber.
Neues Leben im abgelegenen Dorf
Die Gadmerinnen und Gadmer sind stolz auf ihre Lodge; sie ist zu einem Treffpunkt im Dorf geworden. «Früher war es hier in der Nacht still und dunkel», erzählt Sandra von Weissenfluh. Doch heute lade das hell und freundlich erleuchtete Gasthaus zum Verweilen ein, ergänzt ihr Mann Aristo. «Plötzlich hört man im Dorf Englisch und Französisch, Züri- und Baseldütsch.»
Tatsächlich verweilen im Bergdorf nun mehr auswärtige Gäste, Teilnehmende von Events können jetzt hier übernachten, Familien schätzen das kleine Skigebiet, und die Loipen rund ums Nordic Center sind weit herum beliebt.
Einen Trend nach oben spürt auch Erich Sterchi, der seit mehr als zwölf Jahren Langlaufunterricht gibt, aber auch als Guide für Schneeschuhtouren gebucht werden kann: «Früher bestand mein Kernpublikum aus Einheimischen, heute bin ich regelmässig mit Touristen unterwegs.» Für geführte Mondscheinwanderungen sind nun gar fixe Termine ausgeschrieben, neu sind zudem ein Schlittel- und ein Schneewanderweg entstanden, die Nachtloipe wurde verlängert.
Ein Ort mit vielen Möglichkeiten
«Gerade im Winter haben wir noch viel Potenzial», ist Thomas Huber überzeugt. Weil die Passstrasse geschlossen ist, herrscht hier hinten im Tal in den Schneemonaten eine wundervolle Stille. Künftig möchte er noch stärker auf die Qualität der Angebote fokussieren und auf Wissensvermittlung setzen – zum Beispiel mit Blumen- und Pilzkursen. «Wir müssen die Schätze, die wir hier vor der Haustüre haben, einfach noch besser in Wert setzen.»
Weil Silvia Kaufmann altershalber kürzertreten will, übernimmt im Mai 2022 die neue Pächterin Anna Schmutz den Betrieb. Und auch die Lodge selber erfährt ihre erste Auffrischung: Die Erfahrung hat gezeigt, dass der Komfortanspruch der Gäste gewachsen ist. Die Zimmer mit gehobenem Standard werden doppelt so oft gebucht wie die grösseren Unterkünfte mit Etagendusche. «Mit einem Umbau optimieren wir nun das Angebot, die Wertschöpfung wird dadurch steigen», sagt Huber.
«Alles, was dem Gast dient, ist positiv. Somit ist der Umbau der Zimmer unabdingbar.»
Ernst Abplanalp, ehemaliger Metzger von Innertkirchen und Genossenschafter
Vorgesehen ist, die Anzahl an modernen Zimmern zu vergrössern und mit einem kleinen Wellnessbereich zu ergänzen. Die Finanzierung von 1,4 Millionen Franken ist dank der mehr oder weniger gleichen Trägerschaft wie bei der ersten Etappe bereits gesichert, auch die Genossenschaft soll mit weiteren 100'000 Franken daran teilhaben.
Zu Beginn des Projekts gab es auch kritische Stimmen, nicht überall brach gleich begeisterte Freude aus. Manche sprachen von einer «hirnrissigen Idee» oder von «Grössenwahnsinn». Die meisten Kritiker sind mittlerweile verstummt. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass in Gadmen plötzliche neue Häuser gebaut oder alte Wohnungen saniert werden und junge Menschen und Familien zuziehen.
«Unser Bergdorf blüht wieder auf», bringt es Aristo von Weissenfluh auf den Punkt. Sie seien schon fast ein Geheimtipp im Haslital, ergänzt Metzger Abplanalp. Und Huber hält mit einer gewissen Anerkennung fest, man habe hier verstanden, dass man handeln und Verantwortung übernehmen müsse: «Wir sind ein Modell dafür, wie sich ein so kleiner Ort selber helfen kann – und muss.»
Ungenutztes Potenzial in den Bergdörfern
Vielerorts, gerade in Bergregionen, stehen alte Schulhäuser leer. Sie befinden sich meist an zentraler Lage, gehören den Gemeinden und verursachen Kosten. Handeln ist unumgänglich. Eine clevere Neunutzung wie in Gadmen entspreche genau ihren Grundanliegen, sagt dazu Kilian Gasser von der Schweizer Berghilfe: «Wir möchten mit den Projekten, die wir unterstützen, mehr Wertschöpfung in die Täler bringen.»
Nebst landwirtschaftlichen Vorhaben erhalten auch immer mehr Ideen aus Gewerbe und Tourismus die nötige Hilfe. «Da unsere Beiträge meist à fonds perdu gesprochen werden, prüfen wir die Projekte auf Herz und Nieren – und decken dann die letzten fehlenden Meter auf der Finanzierungsstrecke bis zur definitiven Umsetzung ab.» Bei Ausbauplänen ist die Berghilfe manchmal auch ein zweites oder drittes Mal mit dabei.
Die Idee, wie Schulhäuser umgenutzt werden können, ist vielfältig. Im Walliser Lötschental zum Beispiel hat sich eine Handvoll Frauen zusammengetan und in den leeren Räumen die Spielgruppe Purzelzwärg gegründet. In Ernen im Goms wiederum ist ein neuer Co-Working-Space entstanden, wo heute digitale Nomaden an ihren Bildschirmen sitzen und sich austauschen können. Und in Pinsec im Val d’Anniviers ist ein kleines Bed & Breakfast in die verwaisten Räume eingezogen. Ein neues Albergo diffuso entsteht zurzeit im Tessiner Bergdorf Scudellate. Dabei werden im ganzen Ort nicht mehr genutzte Gebäude zu Hotelzimmern umgewandelt – und das ehemalige Schulhaus ist neu ein Ostello, eine Gruppenunterkunft.
Insgesamt hat die Schweizer Berghilfe 2021 mit 29,3 Millionen Franken über 800 Projekte unterstützt. Weitere Infos unter berghilfe.ch, gadmerlodge.ch, gadmen-dolomiten.ch
NACHGEFRAGT
«Eine Genossenschaft verfolgt meist längerfristige Visionen»
Henrik Schoop, laut der letzten Erhebung von 2020 sind 4,6 Prozent aller Schweizer Genossenschaften im Tourismus, der Hotellerie oder der Gastronomie tätig. Wo sehen Sie den wirtschaftlichen Hauptvorteil dieser Unternehmensform?[IMG 8]
Die Genossenschaft ist personen- und nicht kapitalbezogen, sie hat weder Renditeziele, noch strebt sie primär die Gewinnmaximierung an. Durch das Kopfstimmrecht ist die Genossenschaft zudem demokratisch organisiert. Eine ungewollte Akquise, ein sogenannter Unfriendly Take-over, ist kaum möglich, da die Genossenschaftsanteile nicht auf dem freien Markt – wie einer Börse – gehandelt werden. Eine Einflussnahme Dritter ausserhalb der Gesellschaft wird dadurch erschwert bis verhindert. Die Genossenschaft ist zudem die Rechtsform, die am wenigsten Konkurse verzeichnet.
Es gibt ja verschiedenste Genossenschaften. Ist das für alle gleich?
Im Tourismus-, Hotellerie- und Gastrosektor ist speziell ein weiterer Vorteil zu nennen: Mitinhaber sind gleichzeitig Kunden, wodurch eine stärkere Treuepflicht entsteht.
Gerade in regionalen Genossenschaften entsteht ein starkes Wir-Gefühl. Welchen Einfluss hat das auf die gesellschaftliche Verantwortung?
Das starke Wir-Gefühl entsteht durch die Identifikation mit dem Unternehmen, da Genossenschafter bei der Erreichung des Unternehmenszwecks persönlich mitwirken können. So entstehen Langfristigkeit als Vision und nachhaltige Verantwortungen. Diese beziehen sich nicht nur auf die Umwelt, sondern auch auf soziale Aspekte sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Worauf müssen Touristikerinnen und Hoteliers achten, wenn sie eine Genossenschaft gründen möchten?
Das sind die grundsätzlichen Herausforderungen, die bei der Genossenschaftsgründung zu beachten sind: Es ist ein klarer Zweck zu definieren, der Business Case muss stimmen und rechtliche Herausforderungen sind zu beachten.
Wie schätzen Sie die Zukunft der Unternehmensform Genossenschaft ein?
Grundsätzlich haben die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die Entwicklung in den letzten Jahren die Diskussion über Werte in der Wirtschaft verstärkt. Das hat gezeigt, dass die traditionelle Unternehmensform der Genossenschaft heute den Zeitgeist trifft. Sie basiert auf einem unternehmerischen Denken, dem Werte wie Nachhaltigkeit, Sinnhaftigkeit und Partizipation wichtiger sind als die Gewinnmaximierung. Damit wird die Genossenschaft wieder hochmodern.