Mit seinen 65 000 Kilometern scheint das hiesige Wanderwegnetz fast endlos gross. Doch selbst auf einsamen Bergpfaden kommt es zu Begegnungen. Ob man nun wandernd auf weidende Kühe trifft, einem Herdenhund mit seinen Schafen begegnet oder einem ein Mountainbiker entgegenkommt. Meist verlaufen diese Begegnungen friedlich, sie bergen aber jede Menge Konfliktpotenzial.
«Die Destinationen leisten viel Arbeit, um sich als Top-Bike-Region zu etablieren.»
Luzi Bürkli, Graubünden Ferien
In Graubünden trifft man häufig auf Mountainbikefahrende, denn hier ist das Fahren auf allen Wanderwegen erlaubt – ausser es ist ein ausdrückliches Verbot signalisiert. Im Schweizer Eldorado für Bikerinnen und Biker mit seinen 11 000 Kilometern Wanderwegen funktioniert die Koexistenz in der Regel gut. Es ist wichtig, dass die Biker akzeptiert werden. «Seit über zehn Jahren leisten die Destinationen viel Arbeit, um ihre Orte als Top-Bike-Ferienregion zu etablieren», sagt Luzi Bürkli von Graubünden Ferien. Ganz von selbst geht das mit dem friedlichen Miteinander aber auch hier nicht.
Ein Wanderweg für alle
Um es zu fördern, hat der Kanton 2019 mit Branchenverbänden die Kampagne «Fairtrail Graubünden» lanciert, und es wurden erstmals Fairtrail-Ranger in den Einsatz geschickt. Die sogenannten Fairdinands sind dieses Jahr an 60 Tagen auf Wanderwegen und Trails unterwegs. Sie verteilen Give-aways wie Fahrradglocken und Traubenzucker und suchen vor allem das Gespräch mit den Wegnutzenden.
Das Ziel: Sensibilisierung und gegenseitiges Verständnis wecken. Eine Umfrage zu dieser Kampagne hat gezeigt, dass sie nicht nur sehr gut ankommt, sondern auch, dass die gemeinsame Nutzung mehrheitlich als problemlos bewertet wird. Nur vereinzelt kam die Rückmeldung, es habe zu viele Bikefahrende und das Biken auf Wanderwegen solle verboten werden.
Gemäss der Studie Sport Schweiz *, die letztmals 2020 durchgeführt wurde, fahren 7,9 Prozent der Bevölkerung regelmässig Mountainbike (MTB). Das sind 1,6 Prozent mehr als 2014. Damit hat das MTB-Fahren mittlerweile die Beliebtheit des Fussballspielens überholt, das 7,7 Prozent der Bevölkerung als Hobby ausüben. 56,9 Prozent der Bevölkerung waren regelmässig wandernd unterwegs. 2014 lag der Wert noch bei 44,3 Prozent. Mittlerweile dürfte dieser nochmals deutlich zugenommen haben. Die starke Zunahme der Verkäufe von MTB und elektronischen Mountainbikes (E-MTB) zeigt, wie beliebt der Sport ist. Besonders der Absatz von E-MTB hat stark zugenommen. 2017 bis 2019 wurden jährlich durchschnittlich 96 000 MTB verkauft, bei den E-MTB verdoppelte sich der Verkauf beinahe – von 28 700 auf 51 000 Stück. 2020 gings weiter steil aufwärts: Es wurden 69 000 E-MTB verkauft. 2021 stieg der Anteil der E-MTB auf 40 Prozent, 2017 waren es erst 22 Prozent. Mehr und mehr Bikerinnen und Biker sind in den Bergen anzutreffen – auch weniger sportliche schaffen es den Hang hinauf.
* Die Studie Sport Schweiz wurde im Auftrag des Baspo und in Zusammenarbeit mit weiteren Partnern wie BfU, Suva, Swiss Olympic und BFS vom Schweizer Sportobservatorium durchgeführt.
Hier hilft nur die Entflechtung
Tatsächlich reicht an einigen Stellen die Sensibilisierung nicht, um ein friedliches Wandervergnügen zu gewährleisten. «Wir versuchen, die hoch frequentierten Abschnitte so gut es geht zu entflechten», sagt Samuel Rosenast von der Destination Davos Klosters, wo es über 700 Kilometer Wanderwege und Trails gibt. Der stark begangene respektive befahrene Weg vom Jakobshorn ins Sertigtal und zum Rinerhorn blieb trotz Sensibilisierungskampagnen konfliktbeladen.
Vor zwei Monaten wurde hier nach langer Planung mit dem Bau eines zweiten Weges begonnen: Es entstehen neue Wegstücke von gut sieben Kilometern Länge. Dabei handelt es sich um die schweizweit grösste Entflechtung überhaupt. «Bei vereinzelten Abschnitten ist die doppelte Wegführung nicht möglich, hier machen wir mit Schildern auf die Doppelnutzung aufmerksam, und Bikes werden mit Hindernissen abgebremst», sagt Samuel Rosenast. Finanziert werden die Arbeiten von der Gemeinde Davos. Die Investitionen belaufen sich insgesamt auf 660 000 Franken, abgewälzt auf die Nutzenden werden sie nicht: «Bike-Trails werden weiterhin kostenlos bleiben.»
Der Bau eines zusätzlichen Weges ist stets die allerletzte Lösung, es gibt auch andere Möglichkeiten der Entflechtung: etwa die Nutzung von Strecken einzuschränken oder den Zugang zeitlich zu begrenzen. «Der Königsweg ist aber die Koexistenz», sagt Luzi Bürkli. Der Kanton, der sich als «Home of Trails» vermarktet, will sich dementsprechend weiterentwickeln.
Vor allem jetzt mit dem E-MTB-Boom: Immer mehr – auch weniger sportliche – Radfahrende schaffen es dank Batterieantrieb auf den Berg hinauf. Andere Kantone setzen auf totale Entflechtung: In Appenzell Innerrhoden ist das Biken auf Wanderwegen grundsätzlich verboten. Im Kanton Bern werden die MTB-Fahrenden geduldet, im Wallis haben sie fast durchwegs freie Fahrt. Doch überall gilt: Die Wandernden haben Vortritt.
Eng ist es in den Bergen gemäss Michael Roschi, Geschäftsführer von Schweizer Wanderwege, trotz des grossen Wanderbooms noch lange nicht: «Abgesehen von einigen wenigen Hotspots gibt es auf den Wanderwegen noch sehr viel Platz.» Und dies obwohl die Zahl der Wanderfreudigen enorm angestiegen ist. 2019 wanderten 57 Prozent der Schweizer Bevölkerung über 15 Jahre regelmässig – 12 Prozent mehr als noch 2013.
Drei Regeln für richtiges Verhalten: So einfach wärs
Wo gewandert wird, da weiden auch Kühe. Rund 20 000 Kilometer Wanderwege verlaufen über Wiesen und Weiden. Dabei kommt es immer wieder zu Begegnungen von Mensch und Tier. Ursula Freund vom Verein Mutterkuh Schweiz weiss, dass viele Wandernde im Umgang mit den Tieren nicht vertraut sind. Der Verein nimmt sich in der nationalen Arbeitsgruppe Rindvieh und Wanderwege seit bald 20 Jahren der Unfallverhütung an.
«Es ist eine Herausforderung, die Wandernden für das korrekte Verhalten zu sensibilisieren.»
Ursula Freund, Verein Mutterkuh Schweiz
«Es ist eine Herausforderung, die Wandernden zu erreichen und zu sensibilisieren», sagt Ursula Freund. «Doch steter Tropfen höhlt den Stein – wir müssen die Verhaltensregeln regelmässig wiederholen und kommunizieren.» Die wichtigsten drei Regeln sind eigentlich einfach: «Abstand halten, die Tiere, insbesondere die Kälber, nie berühren und den Hund an der kurzen Leine führen.»
Kühe sind grundsätzlich nicht angriffslustig. Aber: «Mutterkühe haben einen ausgeprägten Beschützerinstinkt und verteidigen ihre Kälber gegen jede Gefahr.» Viele Wandernde verhielten sich korrekt, was wohl auch auf die Wirkung der langjährigen Sensibilisierungskampagne zurückzuführen sei. Nur selten komme es zu haarsträubenden Situationen – etwa, wenn jemand mit einem Kalb ein Selfie machen wolle und das Tier auch noch berühre.
Wo Herdenschutzhunde ihre Tiere bewachen
Schweizweit sind mehrere Hundert Herdenschutzhunde im Einsatz, die Schafherden bewachen. Die Hunde sind nur an geeigneten Orten sinnvoll, dort, wo wenige Ausflügler unterwegs sind. Doch auch das birgt Konfliktpotenzial. «Es werden schweizweit jährlich etwa fünfzehn Vorfälle gemeldet», sagt der Zoologe Ueli Pfister, Experte in Sachen Herdenschutzhunde. Meist seien diese harmlos, nur im Extremfall komme es dazu, dass der Herdenhund zuschnappe.
Trotz der starken Zunahme an Wandernden hat sich die Zahl der Vorfälle nicht erhöht. Dabei wären sie vermeidbar – wenn denn die Regeln berücksichtigt würden. Wer auf seinem Sömmerungsbetrieb Herdenschutzhunde einsetzt, ist dazu angehalten, mit Schildern darauf hinzuweisen. «Doch immer wieder kommt es vor, dass die Wandernden die Schilder nicht sehen oder die Regeln nicht beachten.»
Es zeigt sich, dass es vor allem gute Zusammenarbeit aller Protagonisten und eine konstante Kommunikation braucht, um die Wandernden zu sensibilisieren und so Konflikte und Vorfälle zu verhindern.
Claudia Langenegger