Insgesamt erwirtschafte die Kaffeebranche 1 Prozent des schweizerischen Bruttoinlandprodukts (BIP), erklärt Professor Chahan Yeretzian, Direktor des Kompetenzzentrums für Kaffee an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil. Die Wertschöpfungskette des Kaffees in der Schweiz generiert rund 5 Milliarden Franken Umsatz jährlich.
Trotz seiner Bedeutung werde dieser Wirtschaftszweig kaum beachtet, sagt Yeretzian im Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda bei einem Milchkaffee.Zwar ist der in Vevey VD ansässige Nahrungsmittelmulti Nestlé als Erfinder des löslichen Kaffees und des Kapselkaffees einer der Riesen im Kaffeegeschäft. Was aber häufig untergeht: Zahlreiche weitere helvetische Unternehmen spielen auf dem Markt ebenfalls eine massgebliche Rolle.
Italien überholt
Mehr als zwei Drittel des weltweiten Handels von Rohkaffee laufe über die Schweiz, sagt der Berner, der in Chemie doktoriert hat und mehr als 12 Jahre für Nestlé und Nespresso unterwegs war. Dank einem steuerlich und wirtschaftlich attraktivem Umfeld mit einem starken Bankensektor verlegten ausländische Unternehmen ihre Sitze nach Genf oder Zürich, beides allgemein Drehscheiben für den Rohstoffhandel.
Auch in der Herstellung von Kaffeemaschinen - insbesondere von Vollautomaten - ist die Schweiz dank ihrer Ingenieurskunst vorne dabei. Die Schweizer Produzenten überholten damit sogar die Italiener, die auf diesem Gebiet lange führend waren, wie Yeretzian ausführt.
In der Kaffeerösterei behaupten sich Unternehmen wie Blaser aus Bern, La Semeuse aus La Chaux-de-Fonds oder Chicco D'oro aus dem Tessin. Insgesamt sind60 bis 80 Kaffeeröstereien in der Schweiz aktiv, vor allem kleine Unternehmen, die lokal tätig sind, wie der Spezialist sagt.
Entscheidende Erfindung
Die Nischenanbieter profitieren von der Erfindung der Kaffeekapseln. Denn diese Entwicklung habe die Konsumenten bei Geschmack und Qualität anspruchsvoller gemacht, sagt Yeretzian. Plötzlich konnte jeder zu Hause guten Kaffee machen.Die dadurch gestiegenen Ansprüche erlauben es den Nischenanbietern, sich zu behaupten und gegen die grösseren Player durchzusetzen.
Die Erfindung der Kaffeekapsel durch Nestlé hat laut dem Kaffeeexperten entscheidend zur Beliebtheit des Kaffees und seinem weltweit stark steigenden Konsum in den vergangenen Jahren beigetragen. Dank Nespresso konnte der Nahrungsmittelmulti in einem Bereich als Pionier vorangehen, der hohe Margen erlaubt, wie Yereztian erklärt. Für eine Kapsel benötigt man nur 5 Gramm Kaffee.
Der Markt der Kaffeekapseln und -pads ist denn auch derjenige, der begleitet von grossen Werbekampagnen am stärksten wächst. Der Anteil von Kapseln und Pads an den Verkäufen beläuft sich inzwischen auf 17 Prozent. Deshalb schiessen die Nespresso-Konkurrenten wie Pilze aus dem Boden. Angezogen vom schweizerischen Know-How haben sich die meisten davon in der Schweiz niedergelassen.
Konstantes Wachstum
Auch die Investoren sind auf den Wachstumsmarkt Kaffee aufmerksam geworden.Letztes Jahr sammelte die unabhängige Rösterei Blue Bottle in San Francisco 120 Millionen Dollar bei Geldgebern ein. Das Interesse der Anleger ist nicht nur den hohen Margen geschuldet, wie Fachmann Yeretzian erklärt.
Der weltweite Kaffeekonsum hat sich in 20 Jahren verdoppelt, jährlich wächst er um 2,5 Prozent. Das Wachstum ist konstant und stabil und dürfte das laut Yeretzian auch bleiben.
Unter anderem gilt es noch die grossen Teeliebhaber in China, Russland oder Indien zu erobern. Das Potenzial illustriert Yeretzian mit einem Beispiel: Die Chinesen trinken aktuell 100 Gramm oder rund 20 Tassen Kaffee pro Jahr, während sich die Schweizer in derselben Zeit mehr als 1000 Tassen des bitteren Getränks genehmigen.
Würden die Chinesen genau so viel Kaffee trinken wie die Europäer, könne Nestlé seinen Umsatz verdreifachen, rechnet Yeretzian vor. Aber das Wachstum brauche noch Zeit: Laut dem Spezialisten wird das Land erst etwa in drei Generationen das westliche Konsumniveau erreichen.
Eine Welt für sich
Von gutem Kaffee bekämen die Konsumenten noch nicht so bald genug, zeigt sich der Experte optimistisch. Dennoch gibt es Risiken, die im Klimawandel begründet sind oder in Krankheiten, die vor allem Monokulturen befallen. Auch politische Probleme in den Herkunftsländern der Kaffeebohnen könnten der Branche noch zu schaffen machen.
Für Yeretzian bleibt der Kaffee aber eine Faszination. «Für mich ist der Kaffee eine Welt für sich», sagt er. Der Kaffee sei Teil einer Kette, die die ganze Welt einschliesse. «Jemand, der den Kaffee versteht, kann die ganze Welt verstehen», sagt er, während er die letzten Schlucke seines Milchkaffees trinkt. (sda/Dorine Kouyoumdjian/vn)