Martin Nydegger ist Direktor von Schweiz Tourismus.
Fast drei Viertel dieses Jahres haben wir bereits hinter uns – ein Jahrhundertjahr, wenn man unsere touristischen Statistiken betrachtet. Zuerst ein seit dem Zweiten Weltkrieg nie mehr dagewesener Frühling des Schreckens. Mit totalem touristischem Stillstand weltweit. Daraufhin aber zum Glück doch eine Sommersaison mit regem Betrieb, die sich zumindest für einige Tourismusgebiete unseres Landes durchaus sehen liess. Im Juli und im August, der Hauptreise- und Sommerferienzeit von Herrn und Frau Schweizer sowie einigen treuen Sommergästen aus Europa, brummte es in den Bergen. Im Vergleich zur Vorjahresperiode gab es im Berggebiet allein durch Schweizer Gäste 44 Prozent mehr Hotelübernachtungen. Eine schöne Zahl, und mein Kompliment nach oben auf den Berg für diese starke Sommersaison!
Zu verdanken haben wir den Bergsommerboom also zum einen unseren einheimischen Gästen. Einige Schweizerinnen und Schweizer verbrachten dieses Jahr sogar zum ersten Mal – und begeistert – Schweizer Bergsommerferien. Und zum anderen halten uns die Touristinnen und Touristen besonders aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten mit beinahe 80 Prozent der üblichen Sommerlogiernächte die Treue. Es zeigte sich also: Sind die Grenzen wieder offen, wird wieder gereist.
Trotzdem dürfen wir die Zwischenbilanz des touristischen Jahres 2020 bis jetzt nicht verkennen. Uns fehlen zwischen Januar und August gesamthaft unfassbare 11,4 Millionen Hotelübernachtungen. Am Berg, in der Stadt und auf dem Land. Zum Vergleich: 11,4 Millionen ist praktisch die Gesamtzahl aller Hotelnächte der Schweizer Städte! Und die Städte sind es auch, die am meisten leiden. Ihnen fehlen Übersee- und Geschäftstourismus. Ihre Perspektiven sind düster.
Die Kolleginnen und Kollegen an der städtischen Front sind aktuell daran, die Herausforderungen anzunehmen und neue Rezepte zu entwickeln. Das braucht Zeit, denn die voluminösen Verluste alleine seitens Geschäftstourismus sind desaströs. Stellen Sie sich einen Bergsommer vor, wo es von heute auf morgen kein Wandern mehr gäbe! Der Geschäftstourismus hat in den Städten nämlich die exakt gleiche Bedeutung wie das Wandern in den Bergen. Das steckt man nicht so rasch weg.
Der Schweizer Tourismus beweist jedoch einmal mehr, wie anpassungsfähig seine Akteure sind.
Der Tourismus- und Unternehmensberater Daniel Fischer fasste an einem Seminar des Verbands Schweizer Tourismusmanager (VSTM) einst eindrücklich die zwei Management-Hauptaufgaben im Tourismus zusammen: «Run the business» und «Develop the business».
Nun muss die Branche pandemiebedingt statt nur dieser beiden gleich drei Disziplinen aufs Mal bewältigen. Und dies gilt für Schweiz Tourismus (ST) genauso wie für ein Hotel, eine Bergbahn oder eine DMO. Derzeitig gilt: «Run the crisis». Jeder touristische Betrieb beschäftigt sich mit der akuten Alltagsbewältigung und administrativem Krisenmanagement wie der Sicherstellung der Liquidität, der Auszahlung der Löhne oder Kosteneinsparungen. Es gilt die Devise, durchzuhalten, bis der erlösende Abklang der Pandemie ausgerufen wird.
Die zweite Aufgabe lautet «Develop the crisis» und beschreibt den Weg aus der Krise heraus. Wie bereitet man sich auf jene Phase vor, wenn grenzüberschreitender Tourismus wieder unbegrenzt möglich ist und die Gäste sich wieder freier bewegen können? Den meisten Gästen (und Anbietern) wird der Schrecken noch lange in den Knochen stecken, und wir tun gut daran, die Wiederaufnahme der Tourismuswirtschaft umsichtig zu gestalten.
Diese Pandemie ist einschneidender als bisherige Finanzkrisen oder Terroranschläge. Doch der Reisemarkt ist träge, und wir dürfen erwarten, dass sich der Freizeittourismus, wenn auch schleppend, wieder erholen wird. Gleichzeitig erhalten wir Tourismusfachleute die Chance, nicht gleich wieder zum normalen Geschäftsgang überzugehen, sondern die dritte Managementaufgabe weitsichtig anzugehen: «Develop the future».
Jede Krise bietet eine Chance, die Dinge neu zu ordnen. Noch nie war die Frage entscheidender, welchen Tourismus wir für eine gesunde Prosperität in der Schweiz wollen. Erstrebenswert ist nicht bloss die banale Rückkehr zur Normalität anno 2019. Welchen Märkte-Mix wollen wir fördern? Wo und wie sollen die Gästeströme fliessen? Welche Gästeprofile passen zu uns? Wie ernst nehmen wir die nachhaltige Entwicklung wirklich? Die Zukunft lässt sich kaum voraussehen. Aber sie lässt sich prägen und beeinflussen, vorausgesetzt, man tut es – gemeinsam.
Schauen wir also nach vorne. Die Wintersaison 2020/2021 findet statt! Und wie! Für die Bergbahnen allein ist der Winter die starke Jahreszeit: Landesweit erwirtschaften die Seilbahnen im Winter gut 75 Prozent des Jahresumsatzes. Eine funktionierende und erfolgreiche Wintersaison ist also fundamental wichtig.
Unsere einheimischen Gäste sind Wintersportler und Schnee-Begeisterte. Sie werden auch dieses Jahr die Pisten stürmen, die Winterwanderwege suchen und es sich auf den Sonnenterrassen gut gehen lassen. Voraussichtlich ist das einheimische Interesse an Ferien in der Schweiz wieder grösser denn je, wie bereits im Sommer. Und wenn die unsäglich komplizierten Quarantäne-Grenzregimes durch Tests abgelöst werden können, orte ich auch viel Schweizer Winterferienpotenzial für unsere treuen Wintergäste aus Europa. Dank «Clean & Safe» kriegen wir das hin. Die Branche hat es in den vergangenen Monaten bravourös bewiesen. Dank solider Schutzkonzepte mussten wir Gott sei Dank keinen einzigen Corona-Ausbruch an einer touristischen Destination beklagen. Diese bewährten Konzepte werden nun an die Begebenheiten des Winters angepasst – sozusagen winterfest gemacht.
Die Welt ist zu komplex, als dass man unkoordiniert und mit vielen verschiedenen Botschaften an die Gäste gelangen könnte. Darum spricht die Branche eine gemeinsame Sprache für die Wintersaison, von den Waadtländer Alpen übers Wallis bis in die Ostschweiz und ins Unterengadin. Gemeinsam mit der Tourismus-Allianz werden wir am 13. November den Schweizer Winter lancieren. Zuversichtlich. Solid. Sicher.