Die Corona-Pandemie hat uns fest im Griff, der Tourismus ist weltweit eingebrochen. Wie gehen Sie persönlich mit der Krisensituation um?
Ich versuche, die maximal noch mögliche Normalität im Alltag zu erhalten – trotz einer Krisensitzung nach der anderen. Das Unvorstellbare ist Realität geworden: Der globale Tourismus findet nicht mehr statt. Viele Existenzen sind bedroht. Es ist eine äusserst belastende Zeit. Das geht an die Substanz.
Wie erleben Sie die Schweizer Tourismusbranche in diesen Tagen?
Besonnen und besorgt. Ich treffe in diesen Tagen viele Hoteliers und Gastronomen, die sich fragen, wie lange kann ich den Totalstillstand überleben? Wie sehr will ich mich verschulden? Ein grosses Kompliment geht an die Leitverbände unserer Branche. Sie beweisen täglich, warum es sie braucht. Und dann darf man etwas nicht unterschätzen: Gäste registrieren, wie man in Krisenzeiten mit ihnen umgeht. Unsere Branche tut dies verlässlich und fair. Kommerzielle Interessen vor Gästegesundheit zu stellen, geht gar nicht. Das zeigte der Partymacher Ischgl, der einen heftigen Imageschaden erlitten hat.
Jürg Schmid, 57, zählt weit über die Branche hinaus zu den bekanntesten Protagonisten im Schweizer Tourismus. Als Direktor der Marketingorganisation Schweiz Tourismus positionierte er die Schweiz während 18 Jahren (2000–2017) weltweit als Ferienland. Zuvor war Schmid bei Oracle Corporation als Sales & Marketing Manager für diverse Märkte verantwortlich. Heute ist der begnadete Kommunikator Mitinhaber der Marketing- und Kommunikationsagentur Schmid Pelli & Partner und nimmt diverse Mandate wahr. So ist er etwa VR-Präsident der Schweizer Luxuskollektion The Living Circle und Präsident von Graubünden Ferien. Schmid ist verheiratet, Vater dreier erwachsener Kinder und lebt in der Nähe von Zürich.
Wie beurteilen Sie die ersten Hilfsmassnahmen des Bundes?
Daniel Koch ist die geradezu visuelle Verkörperung der Bundesmassnahmen: unaufgeregt, solid und verlässlich. Das Instrument Kurzarbeit entlastet, die Sofortkredite helfen uns, die Liquiditätsfalle zu überwinden. Sorgen macht mir jedoch die Verschuldung, die sich in unserer margenschwachen Branche aufbaut. Hier braucht es für den Tourismus weitergehende Hilfen.
Die Sehnsucht nach der «Zeit danach» wird jeden Tag grösser. Aber wann ist es so weit?
Ich bin kein Hellseher, aber auch kein Schwarzmaler. Viele Ökonomen sagen uns eine V-förmige Wirtschaftserholung voraus. Will heissen, auf eine rasche, heftige Krise folgt eine ebensolche Erholung. Für grosse Teile des Tourismus sehe ich dies aber leider nicht so. Für international ausgerichtete Destinationen und das Kongressgeschäft zeichnet sich eine längere Durststrecke ab.
Welche Märkte werden sich mit Blick auf das Reiseland Schweiz am schnellsten erholen?
Der Verlauf ist kaum prognostizierbar. Man muss in Szenarien denken. Das Realistischste scheint mir dabei, dass die internationalen Reiseströme sich nur langsam erholen. In Krisenzeiten gewinnt immer die Nähe. Das Vertraute vermittelt gefühlte Reisesicherheit. Das gilt für alle Märkte. Dass sich US-Amerikaner wieder auf Kreuzfahrten freuen, Chinesen auf Paris und Venedig und wir alle wieder lustvoll einen Flieger besteigen, das wird wohl erst wieder so richtig nächstes Jahr der Fall sein. Für die touristische Schweiz wird 2020 zum Jahr der Schweizerinnen und Schweizer. Nur sie können unsere Sommersaison retten.
Die Pandemie ist ein schwerer Einschnitt für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaften. Wird er das Reiseverhalten generell verändern?
Der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat kürzlich in einem «Tages-Anzeiger»-Interview gesagt: «Die Coronavirus-Pandemie geht vorbei, genauso wie es beim HI- oder Ebola-Virus war. Bald ist alles, was uns heute so dramatisch erscheint, nur noch eine blasse Erinnerung.» In der langfristigen Beurteilung neigt der Mensch doch immer zum Verdrängen und Vergessen. Für unsere Branche erwarte ich aber schon mittelfristige Auswirkungen. Das Wohlbefinden in grossen Massen muss sich erst wieder aufbauen. Das wird sich auf Events, Kongresse und Fernreisen länger auswirken. Aber selbstverständlich würde ein Impfstoff rasch totale Entspannung bringen.
Wird sich der Trend zur Entschleunigung verstärken?
Das war ja schon lange ein Paralleltrend zur digitalen Beschleunigung – und wird es auch bleiben. Dass die Menschheit nun grundsätzlich entschleunigt, das würde mich sehr überraschen. Aber die Abhängigkeiten der Globalisierung werden neu betrachtet. Lieferketten dürften neu geordnet werden. Das könnte einen negativen Impact auf den China-Boom haben.
Für «risikominimiertes» Reisen ist die Schweiz ein ideales Land. Hierfür könnten neue Angebote entwickelt werden.
Die haben wir doch längst. Unsere Sommerhauptaktivitäten Wandern und Biken sind Social Distancing in Reinform. Auch ist unser grosses Ferienwohnungsangebot die perfekte Lösung für die kommende kontaktscheue Zeit, gerade für Risikogruppen.
Sehen Sie weitere Möglichkeiten für Destinationen wie auch für Hoteliers, ihre Angebote zu erweitern oder sich neu zu positionieren?
Wer sich jetzt aus der Schockstarre lösen kann und die Zeit zur Vorbereitung und Angebotserweiterung nutzt, arbeitet sich einen Vorsprung heraus. Besonders punkten könnten Hotels und Destinationen, die für Senioren Angebote mit Sicherheitsgefühl oder Lerncamps für Jugendliche entwickeln. Grundsätzlich gilt nach wie vor, dass Hotels und Destinationen mit einer klaren Positionierung gewinnen.
Und wie sieht die Rolle der Tourismusorganisationen aus?
Sie kommen erst gegen Ende der Krise richtig ins Spiel. Dann müssen sie zu einem fulminanten Start beitragen. Es wird eine Marketingschlacht geben.
Die Berggebiete zählten zu den grossen Verlierern nach der Währungskrise. Können Sie nun von einem gewachsenen Bedürfnis nach «heiler Welt» profitieren?
Dieses Mal ist es anders – aber nur, wenn auf den Sommer/Spätsommer hin wieder gereist werden kann und danach keine zweite Viruswelle kommt. Berge und Seen statt Kreuzfahrt und Grossstädte, das dürfte dann das Reisemotto der Schweizerinnen und Schweizer sein. Unsere Naturerlebnisse gewinnen gegen die Spassgesellschaft.
Zu den grossen Verlierern zählt derzeit auch das Tessin.
Das Tessin hat es im Unterschied zu den Bergen zu Saisonbeginn kalt erwischt. Es ging aber früher und konsequenter in die Isolation. Es kommt darum auch früher raus. Das Tessin wird die erste Schweizer Region sein, die «sorglose» Sommerferien anpreisen kann. Das könnte doch noch ein guter Tessiner Sommer werden.
Wie beurteilen Sie die Zukunft von Geschäftsreisen?
Wir stecken ja alle im Homeoffice. Wir merken, das funktioniert. Wir erfahren aber auch die Grenzen. Nur Homeoffice geht gar nicht. Wir sehnen uns nach menschlicher Interaktion. Nach Aufhebung der Bewegungsfreiheit werden darum Geschäftsreisen und Seminare eine rasche Erholung erfahren.
Die Corona-Krise zeigt es: Die (Geschäfts-)Welt funktioniert digital.
Das Virus beschleunigt die Digitalisierung, digitale Meetings werden zunehmen. Sie ersetzen aber vor allem die vielen langatmigen firmeninternen Meetings. Die Strategieentwicklung oder das Kreameeting wird nach wie vor physisch stattfinden und sucht nach inspirierenden Seminarorten.
Schlussendlich lautet die Gretchenfrage: Wie nachhaltig werden die Veränderungen sein?
Die Gretchenfrage heisst ja so, weil die Beantwortung zur Verzweiflung führt. Es ist klar zu früh, um die Nachhaltigkeit gesellschaftlicher oder ökonomischer Auswirkungen zu beurteilen. Einiges scheint aber schon klar: Händewaschen hat eine neue Bedeutung, drei Küsschen zur Begrüssung dürften noch lange ein Zögern auslösen, Pendeln ist uncool, und die von den Balkonen singenden Italiener haben unsere Sympathie. Es könnte auch sein, dass nach der Krisenbewältigung ein globales «Wir packen alles»-Gefühl herrscht. Wer das Virus besiegt, kriegt doch auch die Klimaherausforderung auf die Reihe! So lässt sich, im Gegensatz zur Gretchenfrage, immerhin die Gretafrage beantworten: Wenn das Virus vorbei ist, kehrt diese mit ihrer Forderung nach ökologischer Nachhaltigkeit mit Sicherheit zurück.
gery nievergelt