Raphaël Brunschwig, wie ist die Stimmung bei Ihnen im Team, so kurz vor dem Start des Festivals?
Die Stimmung ist gut. Es ist auch langsam etwas Adrenalin im Spiel, obwohl es eine ganz andere Ausgangslage ist als in «normalen» Jahren, in denen jeweils rund 160 000 Besucher ans Locarno Film Festival kommen. Da ist die Anspannung natürlich schon grösser als dieses Jahr.
Und wie war die Stimmung, als definitiv klar war, dass das Festival nicht wie gewohnt stattfinden kann?
In gewisser Weise war es fast ein wenig eine Erleichterung, da wir von Februar bis April an verschiedenen Szenarien gearbeitet hatten: ein Festival wie gehabt, in reduzierter Form, nur online oder alles annulliert. In dieser Zeit befanden wir uns in einer grossen Ungewissheit. Gleichzeitig zur Erarbeitung der verschiedenen Szenarien mussten wir Budgets organisieren, mit den Partnern verhandeln und mögliche Gestaltungsvarianten ausarbeiten. Als dann das BAG Anlässe über 1000 Personen bis Ende August untersagte, war für uns klar, dass das Festival, so wir es kennen, 2020 nicht umsetzbar ist. Gleichzeitig schuf dieser Entscheid klare Voraussetzungen, um zu entscheiden, was möglich ist und was nicht. So wurde es für uns etwas einfacher.
Raphaël Brunschwig, 36, stieg 2013 beim Locarno Film Festival als Sponsorship Coordinator ein. In der Folge war er für das gesamte Sponsoring zuständig. Zusätzlich zu dieser Funktion übernahm er die Projektleitung für die Renovierung des Kinos Ex*Rex. 2016 wurde er stellvertretender COO, und seit September 2017 amtet er als Chief Operating Officer. Davor war er während zehn Jahren bei Publisuisse als Project Manager Crossmedia & Senior Media Planner tätig. Der gebürtige Zürcher wuchs im Tessin auf und verbrachte seine Lehr- und Wanderjahre zwischen Lugano und Milano. Er lebt mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in Locarno.
Das Herzstück des Festivals – die Filmvorführungen auf der Piazza Grande – gecancelt. Wie sind Sie bei der Planung des kommenden Festivals vorgegangen?
Mit dem Präsidenten Marco Solari und dem Verwaltungsrat haben wir uns drei Ziele gesetzt. An erster Stelle steht, das Überleben des Festivals zu sichern und Kontinuität zu gewährleisten. An zweiter Stelle kommt die Stärkung und Konsolidierung der internationalen, nationalen und regionalen künstlerischen Reputation – trotz der aktuellen Situation. Um dies zu erreichen, haben wir versucht, mit viel Verantwortung und Solidarität gegenüber der Filmbranche und gegenüber unseren verschiedenen Stakeholdern zu agieren und entsprechende Projekte zu entwickeln. Und an dritter Stelle haben wir unsere Strategie so ausgerichtet, dass alles, was wir dieses Jahr an digitalen neuen Formen erarbeiten, bereits eine Investition in die Zukunft ist. Eine Investition in eine hybride Zukunft. Auch wenn für uns das physische Festival natürlich ganz wichtig ist und wir dieses in Zukunft noch stärken möchten.
Eine hybride Zukunft – können Sie dies etwas ausführen?
Das Digitale wird immer wichtiger. Während des Festivals, um den Event zu amplifizieren und zu verstärken. Etwa, damit Cineasten die Filmprogramme auch von anderen Kontinenten aus mitverfolgen können. Und auch unter dem Jahr, um im Gespräch zu bleiben. Nun waren wir gezwungen, Abläufe aufzugleisen, die wir eigentlich für die nächsten drei Jahre geplant hatten. In kürzester Zeit hatten wir dadurch die Chance, einen grossen Schritt vorwärts zu machen. Dies war nur dank unseren Partnern möglich – seien es die öffentlichen oder die privaten –, die geschlossen hinter uns und unseren Werten und Visionen stehen und es uns ermöglicht haben, unser Bestes zu geben in dieser ausserordentlichen Situation.
Sie haben vorhin auch die Stärkung der künstlerischen Reputation des Locarno Film Festival angesprochen. Wie erreichen Sie diese?
Mit der Initiative «For the Future of Films» unterstützen wir unabhängige Filmproduktionen. Dabei werden von einer internationalen Jury nationale und internationale Filmprojekte evaluiert, die von der Corona-Pandemie gestoppt wurden. Die Preisgelder sollen dazu beitragen, dass diese Filme fertiggestellt werden können. Die Auszeichnung dieser Filme findet am letzten Tag des Festivals – am 15. August – online statt.
Wenn Sie von Hybridfestival sprechen, dürfen sich Cinephile trotz allem auf etwas Filmfestivalstimmung freuen?
Wir werden in drei verschiedenen Kinos in Locarno Filme zeigen. Selbstverständlich unter Einhaltung der Schutzkonzepte des BAG, des Kantons Tessin und von Pro Cinema. Das Programm wird ab dem 29. Juli auf der Website des Locarno Film Festival abrufbar sein. Dort können auch Tickets reserviert werden.
Zurzeit verzeichnen die Kinos sehr schlechte Besucherzahlen. Mit wie vielen Besuchern rechnen Sie vor Ort?
Das ist schwierig zu sagen. Wenn wir auf 10 000 Besucher kommen, dann ist das ein sehr guter Wert. Wir müssen im schlimmsten Fall jedoch damit rechnen – sollte sich die Corona-Situation wieder verschärfen –, dass wir kurzfristig alle physischen Filmvorführungen absagen müssen. Doch auch hier geht es uns in erster Linie darum, ein Zeichen zu setzen. Die aus dem Verkauf der Tickets generierten Einnahmen sind in diesem Jahr eher sekundär. Es ist, wenn auch nur eine sehr reduzierte, eine Präsenz vor Ort. So gibt es Kurzfilmprogramme, filmische Meilensteine aus der Geschichte des Festivals und eine Retrospektive der Sektion Open Doors, mit der wir das Filmschaffen des globalen Südens und Ostens sichtbar machen. Ausserdem bieten wir Workshops für Kinder an, in denen sie selber Trickfilme realisieren können.
Welchen Budgetanteil machte der Verkauf der Tickets in vergangenen Jahren aus?
Wir verfügen in einem normalen Jahr über ein Budget von ungefähr 14 Millionen Franken, wovon der Ticketverkauf etwas mehr als 2 Millionen ausmacht. Der Rest setzt sich normalerweise zu 40 Prozent aus öffentlichen Geldern und zu rund 40 Prozent aus Sponsorengeldern zusammen. Dieses Jahr haben wir ein Budget, das etwas über 7 Millionen liegt. Der Ticketverkauf spielt dabei eine unbedeutende Rolle.
Ist ein Defizit zu erwarten?
Wir rechnen mit einem Defizit von 250 000 Franken. Das ist nicht ideal, aber verkraftbar. Wir dürfen nicht vergessen, dass es nicht selbstverständlich ist, eine solche Krise zu überleben.
Das heisst also, dass Sie relativ optimistisch in die Zukunft blicken?
Sagen wir es so: Wir versuchen, das Beste aus der aktuellen Situation zu machen. Was jedoch die Zukunft anbelangt – wir sind Teil eines Systems. Und wenn es diesem System nicht gut geht, dann geht es auch uns nicht gut. Wir hoffen also, dass sich die allgemeine Lage stabilisiert und dass man so schnell wie möglich wieder zur Normalität findet. Da stellt sich natürlich die grosse Frage, wie die neue Normalität aussehen wird und was sie mit sich bringt. Wir werden agil reagieren müssen. Dieses Jahr dürfen wir auf die Solidarität von Unternehmungen zählen. Aber ein zweites solches Jahr wäre schwer zu verkraften.
Das Locarno Film Festival hat auch touristisch eine grosse Bedeutung für das Tessin. Jeder Franken, der ins Festival investiert wird, generiert 3 Franken. Mit diesem Effekt ist dieses Jahr leider nicht zu rechnen?
Nein, leider nicht. Aber wir sind stolz, dass unsere Heimatregion auch dieses Jahr so attraktiv für Feriengäste ist und wir dazu auch etwas beitragen können. Die Hotels sind ausgebucht, und die durchschnittliche Übernachtungsdauer ist höher als in anderen Jahren. Viele Gäste, die ihre Ferien in der Regel anderswo verbringen, sind nun hier.
Das heisst, der eine oder andere Gast, der sich bislang nicht fürs Filmfestival interessierte, könnte durchaus auf den Geschmack kommen?
Dieses neue Gästesegment kann sicherlich eine Chance für uns sein. Und wer weiss, vielleicht kommt der eine oder andere Gast nächstes Jahr wieder ans Filmfestival in Locarno.
Auch wenn das Locarno Film Festival 2021 noch in weiter Ferne ist: Wie gehen Sie da bei der Planung vor?
Auch da müssen wir in Szenarien arbeiten. Die Verträge mit den Partnern sind abgeschlossen. Dank den Erfahrungen dieses Jahres wissen wir, wie unsere Möglichkeiten aussehen. Und wir haben entsprechende Projekte entwickelt. Aber auf jeden Fall planen wir zurzeit, dass wir das Festival durchführen, so, wie das ursprünglich geplant war.
Nochmals zurück ins 2020. Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf das Festival, das vor Ihnen liegt?
Mit etwas Wehmut, wir werden das Publikum vermissen. Aber wir werden wertvolle Erfahrungen sammeln, um noch stärkere Festivals durchzuführen.