«Endlich», sagte Interlakens Tourismusdirektor Daniel Sulzer, als er zum Start der Wintersaison die digitale Gästekarte der Destination präsentierte. Die digitale Version des Interlaken-Passes, mit dem die Gäste Vergünstigungen und freie Fahrt im ÖV geniessen, habe man schon längst lancieren wollen, sei aber von der Pandemie ausgebremst worden. Über 80 Prozent der Gäste erwarteten heutzutage eine digitale Lösung, bemerkte Sulzer. Gerade in den USA und in Asien sei das Standard.
«Andere Länder sind punkto digitaler Gästekarte schon viel weiter als die Schweiz.»
George Beutler
Direktor Hotel Interlaken
Auch Hotelier George Beutler, dessen Hotel Interlaken zu den Testbetrieben der digitalen Karte gehörte und in dessen 4-Sterne-Haus die Präsentation stattfand, machte keinen Hehl daraus, dass er die technische Innovation für überfällig hält: «Andere Länder sind punkto digitaler Gästekarte schon viel weiter als Interlaken und die Schweiz.» Tatsächlich stellte eine Studie 2018 fest, dass «die meisten Destination Cards in Europa und auch der Schweiz in Papierform ausgestellt» werden (mehr zur Studie im Text unten). Seit 2018 ist aber Bewegung in die Sache gekommen.
Die meisten Gäste ziehen eine digitale Lösung vor
Eine Umfrage der htr hotel revue unter den grössten Schweizer Destinationen zeigt, dass viele Regionen, etwa Unterengadin-Val Müstair, Gstaad-Saanenland und Flims-Laax-Falera, in den letzten Jahren ihre Gästekarten digitalisiert haben. Mehrere grosse Tourismusdestinationen wie die Jungfrauregion, Engadin-St. Moritz, Lugano und Genf sind zudem derzeit dabei, digitale Gästekarten auszurollen oder aufzugleisen.
Interessant ist, dass die meisten Regionen von einer sehr hohen Nachfrage nach der digitalen Lösung berichten. In Arosa werde eine deutliche Mehrheit der Gästekarten digital ausgestellt, obwohl die digitale Lösung erst letzten Frühling lanciert worden sei. In Bern seien es im dritten Betriebsjahr der App bereits mehr als 90 Prozent. Und Genfs Tourismusdirektor Adrien Genier rechnet damit, dass die Geneva Transport Card, die dieses Jahr als letzte von drei in der Calvinstadt verfügbaren Gästekarten digitalisiert werden soll, zu über 95 Prozent digital nachgefragt werden wird. Ein Ausreisser scheint Davos-Klosters zu sein, wo trotz Digitalisierung 70 Prozent der Gästekarten physisch abgegeben werden.
Digital ist flexibler, ökologischer und praktischer
Andere Regionen haben komplett digitalisiert. Gäste in Ascona und Locarno erhalten ihre «Gästekarte» nur noch via App. Das habe mehrere Vorteile, sagt Cinzia Pezzanite, Produktmanagerin bei der Tourismusorganisation Lago Maggiore e Valli, und zählt die wichtigsten auf: Ermässigungen und Dienstleistungen können kurzfristig und unter dem Jahr angepasst werden. Es müssen keine Karten mehr gedruckt werden, was ökologischer ist. Die App erlaubt es, den Gästen zusätzliche Infos zur Verfügung zu stellen wie News und Angaben zu Events. Und dank der App stehen der Organisation Statistiken zum Kundenverhalten zur Verfügung.
Daneben gibt es zahlreiche weitere Vorteile, wie die Rückmeldungen zeigen: dass die Gäste ihre Karte nicht beim Tourismusbüro abholen müssen, dass sie die Karte schon für die Anreise nutzen können, dass die Gäste nicht eine zusätzliche Karte, sondern nur ihr Smartphone herumzutragen brauchen und dass sie sich im digitalen Raum einfacher einen Überblick über die Vergünstigungen verschaffen können.
Gold- und Stolpergrube zugleich
Am Ende geht es vor allem um die Nutzerdaten. Sie sind Stolper- und Goldgrube zugleich. Dessen ist man sich auch in Interlaken bewusst. Bei der Präsentation wurden die Verantwortlichen nicht müde zu betonen, wie wichtig der Datenschutz sei. Auch in unserer Umfrage betonten mehrere Destinationen, man sammle die Daten nur auf anonymisierter Basis. Wie sensibel das Thema ist, erfuhr Arosa vergangenen Herbst, als die Arosa Card den «Blick» zur Schlagzeile «Big Brother in den Bündner Bergen» verleitete.
Welche Angebote laufen gut, welche weniger und weshalb? Auf solche Fragen können die digitalen Daten Auskunft geben, was sie für die Destination und die touristischen Dienstleister besonders wertvoll macht. Denn so können die bestehenden Angebote optimiert und neue geschaffen werden.
Und die Daten können noch mehr: Nehmen wir an, Familie Meier war am Montag mit der Gästekarte im Freibad. Am Dienstag regnet es. Da könnte es doch interessant sein – für die Gäste, die Destination und die touristischen Anbieter –, den Meiers am Dienstag via App einen Rabattgutschein für den Eintritt ins örtliche Hallenbad zu schicken. Oder dem Ehepaar Hasler, das am Montagabend mit seiner Gästekarte das Orgelkonzert in der Kirche besucht hat, eine Vergünstigung für das Kunstmuseum in der Stadt. Solches Cross-Selling will Interlaken zu einem «späteren Zeitpunkt» proaktiv betreiben, wie Tourismusdirektor Sulzer sagte.
Bleiben die Gäste tatsächlich länger in der Destination?
Diese Angebote sollen nicht nur den Gast mit massgeschneiderten Rabatten zu mehr Ausgaben verleiten. Sie sollen es ihm auch ermöglichen, sich während des Aufenthalts passend zu beschäftigen, und ihn so länger in der Destination halten. «Stay longer, experience more», heisst denn auch das Ziel von Interlaken Tourismus.
Interessant ist in dem Zusammenhang eine Studie über den Kanton Tessin. Judit Zoltan und Bob McKercher haben 2015 anhand von Daten aus dem Sonnenkanton analysiert, ob die Reisenden dank Gästekarte tatsächlich länger bleiben. Ihr Fazit: Nein, tun sie nicht. Das Ergebnis soll aber nicht die Wichtigkeit von Gästekarten schmälern. Denn erstens standen 2015 noch keine digitalen Karten und damit keine Daten für massgeschneiderte Cross-Selling-Angebote zur Verfügung. Und zweitens ist es plausibel, dass die mit der Gästekarte angepriesenen vielfältigen Möglichkeiten einer Region die Touristen dazu verleiten, die Gegend ein weiteres Mal zu besuchen und andere Aktivitäten auszuprobieren.
So werden Gästekarten noch nützlicher
Eine an der Walliser Hochschule für Wirtschaft und Tourismus eingereichte Abschlussarbeit befasste sich 2018 eingehend mit sogenannten Destination Cards und wie diese in der Schweiz besser genutzt werden können. Das sind die Kernerkenntnisse:
Potenzial wird nicht ausgeschöpft: «Oftmals nutzen die Destinationen die Vorteile einer Destination Card zu wenig aus», heisst es in der Arbeit. Besonders dank der Digitalisierung könnten Gästekarten aufgewertet werden. So bestehe die Möglichkeit, Kundendaten zu sammeln und so «das Gästeverhalten zu analysieren und Kundenprofile zu erstellen».
Kooperieren und integrieren: Es gebe in der Schweiz zu viele verschiedene Gästekarten, so die Studienautorin. Da als Gast den Überblick zu behalten, sei schwierig. Je mehr Player in einer Destination Card vereint sind, desto attraktiver ist sie. Davon profitieren neben den kleinen und grossen Anbietern auch die Gäste. Denkbar wäre sogar eine Karte für die ganze Schweiz.
Mehr Fokus auf Zielgruppen: Gästekarten sollten flexibler werden und sich stärker an bestimmten Zielgruppen ausrichten. Eine Möglichkeit dafür wären verschiedene Karten mit unterschiedlichen Preisen und Angeboten, wie sie gemäss Studie Innsbruck eingeführt hat.