Christian Jott Jenny, wie sieht Ihr Alltag im Lockdown aus?
Natürlich versuche auch ich, meinen Kreis von Bezugspersonen möglichst eng zu halten. Das sind vor allem meine engsten Mitarbeiter in der Kanzlei und meine Familie. Sonstige Treffen kann man bestens in einem Distanz-Spaziergang abhalten. Das ist sogar eine ganz tolle Erfahrung! Und auch ich mache meine ersten Erfahrungen mit Videokonferenzen...
Physical Distancing ist für Sie als Reisefreund und Kulturschaffender bestimmt besonders hart.
Natürlich, aber noch mehr leide ich mit den vielen Geschädigten in St. Moritz. Zwar war die Wintersaison schon fast zu Ende, als es losging. Aber die grosse Unsicherheit belastet auch die anstehende Sommersaison. Mich persönlich wurmt das alles weniger als Kulturschaffender, sondern einfach als Mensch, welcher immer am liebsten ein Rudel guter Freunde um sich hat.
Christian Jott Jenny wurde 2018 zum Gemeindepräsidenten von St. Moritz gewählt – eine Wahl, die schweizweit für Aufsehen sorgte. Der 41-jährige Zürcher war jedoch auch schon zuvor kein unbekanntes Gesicht im Oberengadin: 2007 gründete er das Festival da Jazz St. Moritz, welches jedes Jahr internationale Grössen der Szene ins Tal lockt. Jenny selbst begann seine musikalische Karriere im frühen Kindesalter bei den Zürcher Sängerknaben. Als Gymnasiast studierte er Gesang an der Zürcher Hochschule für Musik & Theater. An der Berliner Hochschule für Musik «Hans Eisler» liess er sich zum klassischen Tenor ausbilden. Der Humorist ist Vater von «gut und gerne» zwei Kindern sowie seiner Kunstfigur, Leo Wundergut.
Zum 1. April publizierten die Medien wie immer Aprilscherze. Diesmal kam es aber zu hitzigen Debatten über deren Legitimität. Frage an den Profi: Ist Humor in Corona-Zeiten noch erlaubt?
Humor ist absolut immer erlaubt. Humor würde es auch geben, wenn wir zwei Tage vor einem Meteoriteneinschlag wären. 1.-April-Humor hingegen empfinde ich selten als besonders erbaulich. Das hat aber mit der Krise nichts zu tun.
Unterscheidet sich denn Krisenhumor vom Humor in «normalen Zeiten»?
Nun, es gibt für Humor eigentlich ein überordnendes Gesetz: Timing, Timing, Timing. Die falsche Pointe zum falschen Moment – und alles ist vorbei. Gerade in solchen «Krisen-Zeiten» muss man enorm aufpassen, dass man auch der kollektiven Schock-Phase einen gewissen Raum zollt. Man sollte nicht «dreinschiessen», sondern das Momentum abwarten, welches da und dort einen Spruch zulässt. Später werden wir, wohl oder übel, auch über diese Zeit lachen. Wir werden sogar lachen müssen, denn Lachen ist die beste Medizin, wie wir wissen!
Täuscht der Eindruck, oder wimmelt es im Oberengadin derzeit von Italienern?
Jawohl: Der Eindruck täuscht. Und wird von den Medien hochgespielt.
Man liest und hört von Italienisch sprechenden Grossgruppen, die den Mindestabstand nicht einhalten, und von Kunden im Supermarkt, die gegenüber dem Personal ungeduldig und rabiat auftreten. Auf der anderen Seite spielen sich Einheimische als selbst ernannte Ordnungshüter auf, weisen mutmassliche Italiener zurecht und beschimpfen sie nicht selten fremdenfeindlich. Wird das Tal den Menschen in der Krise zu eng?
Ach, ich höre ähnliche Sachen auch aus Zürich. Menschen, die immer gleich ein Foto auf Facebook stellen, wenn irgendwo ein Grüppchen nahe zusammensteht etc. Wir leben alle in einer Extremsituation. Ich kann grundsätzlich damit leben, dass diese Wochen den einen oder die andere etwas verrückt machen. Man sollte das nicht überbewerten. Selbst die Hamsterer. Wer sich in hysterischer Art über Hamsterer auslässt, hat ja auch schon die Ruhe verloren. Natürlich appelliere auch ich an Vernunft und Vorsicht. Und kaufe genügend Klopapier...
Wissen Sie, wie viele Feriengäste und Zweitheimische die Appelle von Kanton und Gemeinden ignoriert haben und über Ostern trotzdem nach St. Moritz gekommen sind?
Nein. Aber auch da: Ich finde eigentlich, die Schweiz macht das im Grossen und Ganzen nicht schlecht. Natürlich sind das dringliche Empfehlungen, aber ich verurteile niemanden, der sich halt etwas bewegen will.
Wir erleben gerade signifikante Einschnitte in unsere Bewegungs- und Versammlungsfreiheit. Nicht wenige beschleicht dabei ein mulmiges Gefühl. Wie steht der Freidenker Christian Jott Jenny zu den Massnahmen des Bundes?
Fast gänzlich positiv. Bei einem Jahrhundertereignis muss man halt mit Jahrhundertmassnahmen rechnen. Ich bin froh, dass das prominenteste Gesicht der Krise in der Schweiz ein Wissenschaftler ist und nicht ein Populist. Das beruhigt mich. Unsere Bundesräte haben zudem auch mal rückblickend Fehler zugegeben, wie übrigens auch Daniel Koch. Das beruhigt mich auch. Das heisst, sie lernen alle an der Krise und erachten sich nicht als unfehlbar. Ich finde die Haltung, dass ein Land auf ein solches Ereignis fehlerlos reagieren sollte, absolut absurd.
Wie erleben Sie die Akzeptanz der Massnahmen in St. Moritz?
Ganz okay. Wie gesagt, es ist eine Extremsituation. Fast so etwas wie ein gesellschaftliches Trauma. Es bringt nicht viel, jeden zu verteufeln, der jetzt halt trotzdem mal auf sein Motorrad sitzen will. Ausserhalb des Tessin gab es hier eine erste kleine Häufung von Fällen. Das hat die Leute schon sensibilisiert.
Denken Sie, der Tourismus in St. Moritz und im Engadin wird von der Krise profitieren können?
Kurzfristig sind wir alle grosse Verlierer. Da gibt es gar nichts zu diskutieren. Es sind gigantische Einschnitte für alle Touristiker. Man darf vorsichtig optimistisch sein, dass die Leute vielleicht im Sommer eher in der Schweiz Ferien machen und nicht gleich um die halbe Welt fliegen wollen. Vorausgesetzt, es gibt dann überhaupt noch Airlines.
Sie rechnen also mit nachhaltigen Veränderungen im Tourismus?
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder machen die Menschen weiter, als ob nichts gewesen wäre – und hauen noch mehr auf den Putz als vorher –, oder, und das glaube ich eher: Die Welt wird nach oder mit Corona eine andere sein als vorher. Ich bin überzeugt, dass wir auch mit gewissen «Gewohnheiten» bei uns im Oberengadin nicht einfach weiterfahren können wie vorher.
Wie meinen Sie das?
Der Luxus von morgen wird ein anderer sein. Dieser Trend zeichnet sich zwar schon länger ab, aber nun wurde der Turbo gezündet. Wir müssen mit einem neuen Gästeverhalten rechnen. Wohlhabende Reisende von morgen werden darauf achten, dass sie nachhaltig anreisen, lokales Essen bestellen und Wein vom Weinbauer from «next door» trinken, weil der aufgeschlossene Kellner ihnen eine bewegende Geschichte dahinter erzählt. Die Nähe zum Produkt wird immer wichtiger. Dafür ist der Gast bereit, mehr zu bezahlen, da er – wie meist Vermögende – so oder so ein schlechtes Gewissen hat, dass er überhaupt da ist. Zumal, was halten Sie von der Idee, wenn St. Moritz die «billigsten und nachhaltigsten Olympischen Spiele der Neuzeit» austrüge? Denn auch das Olympische Komitee kann künftig nicht mehr so weitermachen wie bisher. Klotzen wird vorbei sein! Was cool war, wird auf einmal uncool – und umgekehrt.
Welche Auswirkungen hat die Krise auf den Zeitplan für die Neubesetzung des ESTM-Vorstands?
Kaum eine: Im Mai findet die GV statt, dort wählen wir einen neuen VR, der die Lage nach Corona neu beurteilen wird. Es braucht dazu unverbrauchte, helle, wache und vor allem unabhängige Köpfe, die den Wink der Zeit erkannt haben und nicht Partikulärinteressen vertreten.
Es gibt Stimmen im Tal, die sich Sie als neuen Tourismusdirektor wünschen.
(lacht) Das rührt mich natürlich! Aber dazu braucht es zuerst mal einen gemeinsamen Nenner und eine Analyse: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Und dann entscheidend: Mit WEM gehen wir. Ich stelle aber als Gemeindepräsident fest, dass man in diesem Thema noch keinen gemeinsamen Nenner gefunden hat. Ich hoffe, dass ich mit meinem Netzwerk wenigstens einen kleinen Teil dazu betragen kann, dass wir hier einen Schritt weiterkommen. Aber dazu muss man Erneuerungen zulassen. Der Schnitt nach Corona muss radikal sein, sonst dümpeln wir weiter im Elend. Es gibt eine einzigartige Chance, eine Weltmarke wie St. Moritz und das Engadin neu zu branden. Dies sollte man nicht dem Zufall überlassen, sondern Menschen, die auch in 30 Jahren noch hier oben Gäste empfangen möchten.