Herr Widrig, wie hoch sind aktuell die Frequenzen am Flughafen Zürich?
Im Juli 2020 sind rund 690'000 Passagiere über den Flughafen Zürich geflogen. Das entspricht einem Minus von fast 80 Prozent gegenüber derselben Periode des Vorjahres. Immerhin sind es deutlich mehr als in den Monaten davor, als fast gar nichts lief.
Wie blicken Sie auf den Rest von 2020?
Eine Prognose zu machen für die nächsten Monate, ist schwierig. Wir gehen davon aus, dass sich der innereuropäische Verkehr zuerst erholen wird, die Langstreckenverbindungen werden dieses Jahr noch grösstenteils ausbleiben. Über das ganze Jahr gesehen werden wir etwa so viel Verkehr haben wie zuletzt vor etwa 30 Jahren.
Zur Person
Stephan Widrig (48) ist seit 2015 CEO der Flughafen Zürich AG. Widrig startete seine Karriere nach seinem Studium der Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni St. Gallen als Unternehmensberater, bevor er 1999 zur Flughafen Zürich AG stiess. Zwischenzeitlich verschlug es ihn als Chief Financial und Chief Commercial Officer der Bangalore International Airport Ltd. nach Indien. Widrig ist verheiratet und Vater dreier Kinder.
Ihre 1700 Mitarbeiter sind in Kurzarbeit. Werden Sie Entlassungen aussprechen müssen?
Die finanziellen Auswirkungen der Corona-Krise sind massiv. Die Flughafen Zürich AG ist aber ein solides und langfristig ausgerichtetes Unternehmen. Neben Kurzarbeit wurden zur Liquiditätssicherung unter anderem umfassende Kostensenkungsmassnahmen umgesetzt. Weil auch in den kommenden Monaten mit deutlich weniger Verkehr zu rechnen ist, kann eine Kürzung von Stellen nicht ausgeschlossen werden.
Wird der Flughafen Zürich staatliche Unterstützung beantragen?
Die wirtschaftlichen Folgen sind schwerwiegend für die ganze Luftfahrt. Für Flughäfen, für Airlines, aber auch für alle Partner, die am Flughafen tätig sind. Wir unterstützen die Überbrückungsfinanzierung des Bundes für Firmen, die in ernsthafte Liquiditätsengpässe geraten. So kann man verhindern, dass aus dieser temporären Krise ein struktureller Schaden für die Anbindung unseres Landes entsteht, die dann auch wieder auf andere Branchen durchschlägt. Wir als Flughafen Zürich AG gehen davon aus, dass wir selbst keine Überbrückungsfinanzierung beantragen müssen. Wir haben den Anspruch, diese Krise unternehmerisch durchzustehen.
Gemäss Ihrer Website fliegen 62 Airlines Zürich an. Wie viele werden es nach der Krise noch sein?
Im Sommerflugplan sind es in normalen Jahren sogar etwa 80 Airlines. Einige davon werden nächsten Sommer wohl fehlen. Es wird einige Jahre dauern, bis der internationale Reiseverkehr wieder reibungslos funktioniert und sich auch die Airline-Branche so weit erholt hat, dass alle Verbindungen angeboten werden, für die eine Nachfrage besteht. Ich bin aber doch sehr zuversichtlich, dass wir nach ein paar Jahren wieder auf dem Niveau der Vorjahre sein werden – weil das Bedürfnis nach Reisen nicht zurückgehen und auch unsere Welt global immer vernetzter wird. Es ist auch für den Schweizer Tourismus wichtig, dass wir gut an die Welt angebunden sind und die aufstrebenden Mittelschichten in den Schwellenländern den Weg zu uns finden.
Der Bund hat die drei nationalen Airports beauftragt, sich auf einen Ausfall der Aviatikdienstleister vorzubereiten. Bei Gategroup, SR Technics und Swissport werden bereits Stellen gestrichen. Könnte Ihr Flughafen den Betrieb auch ohne diese Dienstleister weiterführen?
Wir gehen davon aus, dass die in Zürich tätigen Firmen aus eigener Kraft Wege aus der Krise finden. In diesem Fall braucht es auch keine Auffangstrukturen. Für den Fall, dass ein systemrelevanter Partner dennoch ausfällt und die entsprechenden Dienstleistungen kurzfristig nicht durch einen Dritten erbracht werden können, stellen wir sicher, dass die entsprechenden Funktionen möglichst nahtlos weitergeführt werden. Dafür arbeiten wir an verschiedene Szenarien, um möglichst gut vorbereitet zu sein. Was dann genau gemacht würde, hängt von der konkreten Situation ab, die dann eintritt.
Flughafen Zürich AG
Die Flughafen Zürich AG ist ein gemischtwirtschaftliches börsenkotiertes Unternehmen mit Konzession des Bundes. 2019 reisten mehr als 31,5 Millionen Passagiere über den Flughafen. Der Umsatz betrug gut 1,2 Milliarden Franken, der Gewinn 309 Millionen Franken.
Am Flughafen Zürich werden gerade UV-Licht-Geräte zur Desinfektion von Rolltreppenhandgeländern installiert.
Es handelt sich dabei um Hochdruck-UV-Lampen, welche Viren und Bakterien entgegenwirken. Die Geräte desinfizieren die Handläufe inwendig, bevor sie wieder an die Oberfläche kommen. Wir rüsten derzeit die 16 meistfrequentierten Rolltreppen mit diesem neuartigen System aus. Bewährt sich die Massnahme, werden wir die Zahl schrittweise erhöhen.
Der Geschäftstourismus liegt am Boden. Die Menschen haben erkannt, dass sich vieles auch per Videokonferenz besprechen lässt. Aus welchen Gründen werden die Menschen nach der Corona-Krise geschäftlich reisen?
Wir gehen davon aus, dass Videokonferenzen gewisse Geschäftsbesprechungen ersetzen können, und halten das auch für sinnvoll. Für stabile Geschäftsbeziehungen über Grenzen hinweg und auch im Verkauf sind aber physische Kontakte vor Ort ebenso unerlässlich. Im MICE-Geschäft ist zudem eine Reise oft auch eine Wertschätzung für besonders gute Mitarbeitende oder dient der Erweiterung des Netzwerkes.
Trotzdem: Wird der Geschäftstourismus jemals wieder Frequenzen wie in Vor-Corona-Zeiten erreichen?
Ja. Schauen Sie nur, wie viele gut ausgebildete und ehrgeizige junge Leute aus den Schwellenländern auf den internationalen Arbeitsmarkt drängen. Ich bin überzeugt, dass die internationale Arbeitsteilung eher zu- als abnehmen wird, auch dank der Digitalisierung.
Ist Reisen für Sie ein Menschenrecht?
Nein, ein Menschenrecht ist es wohl nicht. Es ist aber eine grosse Errungenschaft unserer Zeit, dass heute das Erleben fremder Kulturen und das Entdecken ferner Orte nicht mehr ein Luxus ist, den sich nur die Reichen leisten können, sondern auch breiten Bevölkerungsschichten offensteht.
Innerhalb Europas braucht man dazu allerdings nicht unbedingt ein Flugzeug – eine Erkenntnis, die schon durch die Klimadebatte Verbreitung fand. Rechnen Sie mit einem Bedeutungsverlust des innereuropäischen Flugreiseverkehrs?
Es kann durchaus Sinn machen, gewisse Kurzstrecken mit dem Zug zurückzulegen. Jedoch ist nicht das Fliegen das Problem, sondern die fossilen Energieträger. Hier gilt es anzusetzen. Mit dem sogenannten Sustainable Aviation Fuel (SAF) bestehen konkrete Alternativen zum herkömmlichen Kerosin. Noch gibt es Hürden, die eine ausreichende Versorgung mit nachhaltigem Treibstoff hemmen, etwa dass SAF noch sehr teuer ist. Findet eine zusätzliche Besteuerung des Fliegens statt, sollen die dadurch generierten Mittel vor allem für eine solche Transformation hin zum ökologischen Fliegen verwendet werden, am besten europäisch harmonisiert, damit wir nicht unsere eigene Wettbewerbsfähigkeit schmälern.
Die Eröffnung von «The Circle» wurde auf November 2020 verschoben. Ist dieser Zeitplan noch realistisch?
Ja, die Eröffnung der öffentlichen Bereiche ist weiterhin für November geplant. The Circle hat einen vielfältigen Mix von Mietern, welche zu einem Grossteil nicht von Corona betroffen sind. Firmen wie Microsoft oder SAP werden ihren Schweizer Hauptsitz im Circle eröffnen, daneben ziehen auch globale Pharmafirmen oder Banken ein, und bereits im Oktober eröffnet das Universitätsspital das grösste ambulante Gesundheitszentrum Europas. Wir gehen auch davon aus, dass wir im November das erste Hyatt-Hotel sowie das grosse Kongresszentrum im Circle eröffnen, auch wenn dafür das Timing natürlich nicht ideal ist.
Sie sind Unternehmer. Mal grundsätzlich gedacht: Sehen Sie alternative Geschäftsmodelle für den Flughafen, die nicht in erster Linie auf dem Flugverkehr beruhen?
Der Betrieb und die stete Weiterentwicklung von modernen Reiseplattformen sind unser Kerngeschäft. Wir diversifizieren einerseits geografisch mit unseren Projekten in Indien und Brasilien und versuchen andererseits, rund um unsere Verkehrsdrehscheiben auch kommerzielle Angebote und Dienstleistungen stetig zu erweitern. The Circle ist ein gutes Beispiel, wie uns das auch vom Geschäftsmodell her robuster macht. In keiner Weise wollen wir aber unsere Identität aufgeben, nur weil momentan die Zeiten gerade etwas turbulenter sind. Reisen ist ein Grundbedürfnis und wird es bleiben. [RELATED]