Ein Gastbeitrag von Dr. Monika Bandi Tanner, Co-Leiterin Forschungsstelle Tourismus (CRED-T), Uni Bern
Touristiker stehen noch immer vor der Frage, wie entwickelt sich die Pandemie, wann wird der Lockdown wieder gelockert, welche Auflagen sind zu befolgen, welche Gäste werden mit welchen Bedürfnissen kommen, mit welchen Angeboten können wir die der Freiheit während Wochen beraubten Menschen begeistern? Aber auch, wie können wir uns in der zu erwartenden «Marketingschlacht» Aufmerksamkeit erlangen und von unseren Mitbewerbern abheben? Bei derart vielschichtigen Fragen mit ungewissem Ausgang eignet sich die Szenario-Methode ausserordentlich gut, denn sie verlangt nur Annahmen, ohne dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens vorausgesagt werden muss.
In einem vom Vorstand von Gstaad Saanenland Tourismus diskutierten Grundlagenpapier ist beispielsweise nachzulesen, dass bei potenziellen Gästen ein Nachholbedarf bestehe und Verpasstes nachgeholt werde, dass persönliche Kontakte, soziale Netzwerke oder befreite Erlebnisse wichtiger werden und dass eine neue Neigung entstehe für besinnliche, persönliche, authentische, regionale, natürliche, inspirierende Erlebnisse. Auch wird einleitend mit einem Auszug aus dem vielbeachteten Artikel von Matthias Horx von Mitte April Hoffnung gemacht: «Wenn wir dann die Prozedur überstanden haben, kommt es zum Coping-Gefühl: Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller Tatendrang. … Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft, … eine Art Neu-Sein im Innern.» [IMG 1]
Was bei Szenarien berücksichtigt werden sollte
Was aber ist zu berücksichtigen bei der Entwicklung von Szenarien? Es muss festgelegt werden, welche Aspekte eine massgebende Rolle spielen. Üblich ist, in drei bis vier unterschiedlichen Dynamiken zu denken, in einer optimistischen, in einer realistischen und einer pessimistischen. Dabei werden Annahmen getroffen, die entweder für alle Szenarien konstant gehalten werden, und andere, mit denen je nach Szenario variiert wird.
Als Konstante für alle Szenarien kann beispielsweise das eingangs erwähnte Gästeverhalten angenommen werden: Die Konzentration auf die Binnennachfrage, die Kompensationserscheinungen, der Verzicht auf Fern- und Städtereisen, auf Ferien am Mittelmeer und auf Kreuzfahrten und die damit verbundente Popularität der alpinen Destinationen, aber auch jene des Zweitwohnungstourismus. Als variabel müssen jedoch unterschiedliche Annahmen zum epidemiologischen Verlauf von Covid-19 mit oder ohne 2. Welle, zur Aufhebung des Lockdowns mit oder ohne einschneidende Auflagen, zur Wiedereröffnung der Grenzen sowie zur konjunkturellen Situation in den Quellmärken getroffen werden.
Fokus auf das realistische Szenario
Viel Aufmerksamkeit wird zurzeit noch immer auf mögliche Szenarien auf der ersten Ebene der Virologen gelegt. Darauf aufbauend leitet der Bundesrat auf der zweiten Ebene die schrittweise Öffnung sowie die entsprechenden Auflagen ab. Erst auf der dritten Ebene und in Abhängigkeit von der ersten und zweiten können touristische Handlungsoptionen entwickelt werden. Dabei ist mittelfristig auch die vierte Ebene zu berücksichtigen, nämlich der konjunkturelle Verlauf in den Quellmärkten sowie der Einfluss der veränderten Staatsdefizite auf den Wechselkurs. Es kann mit Sicherheit prognostiziert werden, dass der Schweizerfranker zusätzlich aufgewertet wird.
Im zurzeit «realistischen» Szenario für Gstaad Saanenland geht man, auch in Abhängigkeit der nächsten Bundesratsentscheide aus, dass es in der Schweiz anfangs Mai kaum mehr Neuinfektionen gäbe und sich auch nur eine schwache 2. Covid-19-Welle bemerkbar mache. Dass deshalb die Corona-Massnahmen schrittweise gelockert würden, Restaurants anfangs Juni mit gewissen Auflagen wieder geöffnet werden dürfen, kleinere Veranstaltungen anfangs Juli und Grossveranstaltungen sogar anfangs August wieder erlaubt seien, die Grenzschliessungen teilweise Mitte Juni wieder aufgehoben und der Flugverkehr Ende Juli wieder an Attraktivität gewonnen habe. Daraus wurden Ideen für die Angebotsgestaltung und die Kommunikation abgeleitet.
Touristische Covid-19-Innovationen
Das systematische Denken in Szenarien mit den unterschiedlichsten Annahmen ermöglicht spannende Lernerfahrungen, vor allem wenn die Konsequenzen in Teams abgeleitet werden. Learnings könnten sein, dass die Gäste wohl einen Nachholbedarf haben, zumindest kurzfristig mit einem veränderten Bewusstsein mit mehr Gespür und Dankbarkeit anreisen und Lust auf Entspannungsangebote für gestresste Familien (wir gehören auch dazu) oder Senioren-Enkel-Packages haben werden.
Eine wichtige Erkenntnis ist auch, dass Betriebe, ja ganze Destinationen, den neuen Ansprüchen bezüglich Sicherheit und Hygiene gerecht werden, mit den neuen Onlinekompetenzen mithalten und sie gekonnt einsetzen. Derartige Zukunftsreflexionen bilden eine gute Grundlage für eine kreative Weiterentwicklungsstrategie. Mit Innotour besteht auch ein geeignetes Förderinstrument, mit dem Recovery-Massnamen rasch und pragmatisch unterstützt werden können, um den Gestaltungsspielraum für Innovationen zu stärken. Man darf auf die touristischen Covid-19-Innovationen der nächsten Monate gespannt sein und wie das geschärfte Bewusstsein für Nachhaltigkeit umgesetzt wird.