Tu Gutes und sprich darüber: Nach und nach wollen Betriebe im Tourismus, ja ganze Skidestinationen, nicht nur nachhaltig sein, sondern gar klimaneutral werden. St. Moritz verspricht seit dieser Wintersaison klimaneutrales Skifahren. Weil dieses Versprechen auf synthetischen fossilen Brennstoffen sowie Kompensationen durch den Hersteller Shell aufbaut, hagelte es Kritik.

Auch die Destination Davos-Klosters will bis 2030 klimaneutral werden. Die Kompensation von Klimagas spielt im Projekt «Davos 2030» ebenfalls eine grosse Rolle: Die Hälfte der freiwilligen Kunden- und Gästebeiträge soll dafür verwendet werden (siehe Kasten).

Ersetzt der Windpark tatsächlich Kohlestrom?
Allerdings beurteilen Experten das Prinzip des Kompensierens von klimarelevanten Emissionen mindestens als zwiespältig. Jürg Rohrer ist Professor am Institut für Umwelt und natürliche Ressourcen an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil ZH. Der Hauptkritikpunkt an den Kompensationszertifikaten betreffe die Frage der sogenannten Zusätzlichkeit: Wird ein Projekt tatsächlich nur deshalb durchgeführt, weil durch Kompensation dafür Geld zur Verfügung stand, oder wäre es ohnehin realisiert worden? In letzterem Fall ergäbe sich damit keine Minderung von CO2. «Dies wäre dann weder netto null noch klimaneutral», sagt Rohrer. Ob die von Kompensationsanbietern unterstützten Projekte tatsächlich dieses Kriterium der Zusätzlichkeit erfüllten, sei oftmals mindestens unklar.

Das sieht auch Anja Kollmuss so, die als unabhängige Beraterin tätig ist und ausserdem zum Thema Klimaschutz forscht. «Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, dass drei Viertel der untersuchten Projekte nicht die Emissionsreduktion erbracht haben, die sie ausgewiesen haben», sagt Kollmuss.

Eine Schwierigkeit sei dabei auch, überhaupt die Menge an gesparten Emissionen zu berechnen. Als Beispiel nennt sie einen Windpark. «Die Berechnung der Einsparung hängt davon ab, womit man vergleicht. Deckt man dabei nur die steigende Nachfrage oder wird tatsächlich weniger Kohlestrom produziert? Das macht einen grossen Unterschied.»

Auch könne es sein, dass Kompensationsprojekte vor langer Zeit implementiert worden seien und somit nichts Neues zum Klimaschutz beitrügen. «Kompensation kann leicht zur Augenwischerei werden», sagt Kollmuss.

Bündner Waldeigentümer verzichten auf Holzschlag
Myclimate sagt auf Anfrage, das Kriterium der Zusätzlichkeit sei bei den von Myclimate unterstützten Klimaschutzprojekten stets erfüllt.

Myclimate erörtert dies am Beispiel des Schweizer Waldschutzprojekts «Prättigau Landschaft Davos». Bei diesem verzichten die Waldeigentümer freiwillig darauf, Holz zu nutzen, damit die Bäume weiterhin der Atmosphäre CO2 entziehen können. «Der Kanton Graubünden gibt Rahmenwerte für die Vorratshaltung der Wälder vor. Innerhalb dieser Werte hat der Waldeigentümer einen gewissen Spielraum», teilt Cornelia Rutishauser von Myclimate auf Anfrage mit. Myclimate und die Projektpartner seien bei der Projektentwicklung von einer verstärkten Nachfrage nach der Ressource Holz und somit von einer möglichen verstärkten Holznutzung ausgegangen.

Laut ZHAW-Professor Rohrer sollte das Kompensieren der letzte Schritt sein: Emissionen vermeiden, Emissionen reduzieren, kompensieren – dies sei mit absteigender Priorität ein geeignetes Vorgehen.

Experte empfiehlt Insetting-Ansatz
Statt also den Klimaschutz via Kompensation quasi ausser Haus zu geben, empfiehlt Rohrer einen anderen Ansatz: Beim sogenannten Insetting stehen die Reduktionen im eigenen Betrieb und in der eigenen Wertschöpfungskette im Vordergrund. Das Bundesamt für Umwelt geht davon aus, dass die Klimaerwärmung tatsächliche Kosten von 200 Franken pro Tonne CO2 verursacht. Unternehmen könnten im Umfang der realen Kosten Emissionsreduktionen im eigenen Betrieb oder bei den Lieferanten umsetzen.

Zunächst brauche es dazu eine transparente Bilanz, wo das Hotel oder die Destination in Sachen Treibhausgasemissionen aktuell stehe. Gemäss dem Greenhouse Gas Protocol (GHG) beinhaltet ein CO2-Management-System, dass jährlich überprüft wird, wie sich die Reduktion von Emissionen entwickelt.

So soll Davos bis 2030 klimaneutral werden
Im Jahr 2030 will Davos-Klosters der erste klimaneutrale Ferienort sein. Möglich werden soll dies zunächst durch das freiwillige Engagement der Feriengäste: Zahlen diese einen Beitrag ans Klima, verdoppelt das betreffende Davoser Unternehmen den Beitrag. Das Geld wird analog zum «Cause we care»-Modell von Myclimate nach einem bestimmten Verteilschlüssel eingesetzt: Die Hälfte der Mittel wird via Myclimate in Klimaschutzprojekte in Graubünden, der Schweiz und weltweit investiert. Weitere 35 Prozent sind für Massnahmen vorgesehen, um die teilnehmenden Betriebe nachhaltiger zu machen. Die übrigen 15 Prozent fliessen in den «Myclimate Klimafonds Davos». Dieser soll Projekte finanzieren, die den CO₂-Ausstoss in Davos verringern. Auch die Gemeinde Davos beteiligt sich an diesem Fonds mit künftig jährlich 250 000 Franken. Wie viel Geld derzeit durch die freiwilligen Beiträge der Gäste zur Verfügung steht, ist laut Destinationsorganisation noch nicht bekannt. «Da die touristischen Leistungsträger in Davos das Geschäftsjahr grösstenteils per Ende April beenden, ist zurzeit noch nicht bekannt, wie hoch der Fondsstand zur ersten Ausschüttung der Fördergelder im Juni 2023 sein wird», teilt Samuel Rosenast von der Destination Davos-Klosters mit. ua

Davos kennt den Klimafussabdruck noch nicht
Wie viel CO2 stösst die Destination Davos-Klosters aus? Noch ist dies nicht bekannt. Davos-Klosters habe sich dem Innotour-Projekt «Klimaneutrale Destinationen» angeschlossen, um diese Wissenslücke zu schliessen, teilt Samuel Rosenast von der Destination Davos-Klosters auf Anfrage mit. Zusammen mit der FH Graubünden und Myclimate werde dabei eine Methodologie zur Berechnung eines destinationsübergreifenden Fussabdrucks definiert. Das Projekt untersucht auch die Destinationen Arosa und Valposchiavo. Das Resultat der Berechnung soll Anfang 2024 vorliegen.

Dann wird bekannt sein, wie viel CO2 es in den verbleibenden sechs Jahren zu vermeiden gilt. Eine Studie im Auftrag von Greenpeace lässt erahnen, dass insbesondere in Davos beträchtliche Emissionen anfallen. Allein für das WEF 2022 beziffert die Studie die durch Privatjets verursachten Emissionen auf 9700 Tonnen. Zum Vergleich: Die Emissionen eines Retourflugs von Zürich nach New York beziffert der Myclimate-Rechner mit 2 Tonnen pro Person.

Experten sagen denn auch: Für eine ehrliche Bilanz gilt es auch, vor- und nachgelagerte Emissionen zu berücksichtigen. Im Tourismus heisst das unter anderem: Die durch die Anreise der Gäste verursachten Emissionen sind ein Teil des Klimafussabdrucks. «Sie machen unter Umständen einen riesigen Anteil aus», sagt Rohrer. «Destinationen müssen sich überlegen, ob es wirklich sinnvoll ist, in Asien Werbung zu schalten, statt sich auf die Schweiz und das benachbarte Ausland zu konzentrieren.»

Es gelte, die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln attraktiver zu machen, so etwa mit dem Gepäcktransport ab Bahnhof direkt ins Hotel oder in die Ferienwohnung. In zweiter Linie sei die Anreise mit dem Elektroauto zu fördern.

Negative Emissionen: Noch ist Verfahren teuer
Ein alternativer Ansatz zur Kompensation könnte sein, ausgestossenes CO2 der Atmosphäre effektiv zu entziehen. In welchem Ausmass die sogenannten negativen Emissionen den Treibhauseffekt reduzieren könnten, ist derzeit unklar. Das Start-up und ETH-Spin-off Climeworks betreibt in Island eine Anlage, die aus der Atmosphäre eingefangenes Kohlendioxid dauerhaft im Gestein einlagert. Ähnlich wie bei einem Kompensationsdienst kann man das Projekt mit Beiträgen unterstützen. Noch sind die Kosten für die Technologie enorm hoch. Climeworks stellt einen Unterstützungsbeitrag von 44 Franken pro Monat dem Ausstoss von 40 Kilogramm CO2 gegenüber. «Bemühungen, in der eigenen Wertschöpfungskette Emissionen zu vermeiden, sind in der Regel weit kostengünstiger», so Rohrer.


Blindes Vertrauen

In die Kritik geraten waren Myclimate und andere Dienste wie Climatepartner oder Climatecompany im vergangenen September. Zwei Investigativjournalistinnen der «Zeit» zeigten auf, dass Myclimate auf Vertrauensbasis das Label «klimaneutral» erteilt – das heisst, ohne die über ein Onlinetool gemachten Angaben zu den Emissionen der Firmen zu überprüfen, selbst wenn diese unrealistisch tief erschienen.

Ein fiktives Start-up, welches angeblich Schnittblumen aus Übersee verkauft, erhielt so von Myclimate aufgrund der eigenen Angaben zu Emissionen und nach einer Kompensationszahlung von 149 Euro das Prädikat «klimaneutral».

Auf Anfrage nimmt Myclimate dazu wie folgt Stellung: «Aufgrund der bisherigen Erfahrungen und Rückmeldungen arbeiten wir aktiv an der Weiterentwicklung und Qualitätssteigerung des Tools.» Künftig betone man stärker die Dringlichkeit, Emissionen zu reduzieren, man prüfe, ob das Unternehmen wirklich existiert, unterziehe die eingegebenen Daten verfeinerten Plausibilitätsüberprüfungen. «Diese Verbesserungen erfolgen mit dem Ziel, die Aussagekraft unseres Online-Emissionsrechners zu verbessern, ohne aber die Einstiegshürden so zu erhöhen, dass Akzeptanz und Nutzung nachlassen. Denn damit wäre dem Klimaschutz nicht gedient.» ua