Theo Wehner, was halten Sie von dem Motto #bettertogether?

Mein erster Gedanke ist: Warum auf Englisch? Haben Sie nichts in den vier Landessprachen gefunden?

Davon einmal abgesehen.

Im Anglofonen sind zwei Deutungen möglich. Wo liegt der Akzent – auf dem «Zusammen» oder auf dem «Besser»? Ich vermute auf Letzterem, da uns ein Zusammen in der leistungsorientierten Gesellschaft von heute nicht mehr reicht. Damit ist das Motto letztlich eine Kritik am Individuum: Wir sind allein nicht mehr gut genug.

Theo Wehner (72) war seit 1997 ordentlicher Professor für Arbeits-​ und Organisationspsychologie am Zentrum für Organisations-​ und Arbeitswissenschaften der ETH Zürich. 2014 wurde er emeritiert. Wehner studierte an der Universität Münster Psychologie und Soziologie. Er promovierte und habilitierte an der Universität Bremen. Von 1989 bis 1997 war er Professor für Arbeitspsychologie an der TU Hamburg-Harburg. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind u. a. die psychologische Fehlerforschung und kooperatives Handeln. Unter dem Begriff «wissensorientierte Kooperation» führt er seit Jahren Projekte in verschiedenen Unternehmen durch. Theo Wehner ist verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkelin.

Aber macht #bettertogether nicht gerade in Krisenzeiten Sinn?

Sie sagen es: in Krisenzeiten. Da es uns schlecht geht, müssen wir jetzt zusammenspannen. Das ist typisch für unsere westlich geprägte Gesellschaft. Dabei hätten wir bereits in den «guten Zeiten» feststellen können, dass nicht nur das Ich zählt, sondern das Wir.

Sie halten also nichts von dem Motto?

Doch, ich habe eine absolut positive Einstellung zu diesem Motto! #bettertogether ist gut, das braucht es jetzt. Die Individualisierung kennzeichnet unsere Zeit. Doch sie ist gleichzeitig das Problem in der Krise. Viele sehen ihre individuelle Freiheit nur schon dadurch eingeschränkt, dass sie sich einen Mund-Nase-Schutz anlegen müssen.

Der Trend zum Wir zeigte sich in der Arbeitswelt schon vor der Krise, z. B. in progressiven Führungsmodellen und flachen Hierarchien. Was halten Sie von solchen Modellen?

Sehr viel. Dass sich Hierarchien weiter verflachen sollen, ist eine positive Botschaft. Nicht der Chef oder die Chefin muss allein entscheiden, sondern das ganze Team muss am Entscheidungsprozess beteiligt sein und eine Entscheidung anschliessend auch mittragen. Aber: Teilnehmen bedeutet nicht automatisch teilhaben.

Wie meinen Sie das?

Wenn ich an Prozessen lediglich teilnehme, gebe ich meine Meinung ab, überlasse die Entscheidung dann aber den sogenannten Verantwortlichen. Das bedeutete eine gewisse Distanz. Wenn ich stattdessen teilhabe, dann fühle ich mich mitverantwortlich. Genau das sollten Organisationen wollen.

Wenn eine Organisation Mitbestimmung zulässt, riskiert sie dann nicht auch unliebsame Meinungen?

Natürlich. Partizipation können Sie nur zulassen, wenn Sie mehr Zeit haben als üblich. Und nur dann, wenn Sie die gesamte Varianz sehen wollen. Das ist nichts für kleine Führungszirkel, in denen alle ähnlich denken. Sie müssen aufrichtig an Meinungsvielfalt interessiert sein.

Dazu gehören auch die Unzufriedenen und Desillusionierten. Wie bringt man Mitarbeitende zurück ins Boot, die innerlich bereits gekündigt haben?

Das ist eine grosse Herausforderung, denn solche Leute gibt es in jedem Betrieb. Ein Motto wie #bettertogether ist da ein guter Anfang. Einige Mitarbeitende werden dadurch zunächst einmal provoziert. Die denken sich: «Ich mache hier noch ein, maximal zwei Jahre, und jetzt reden alle von dem grossen Wir. Darauf habe ich überhaupt keine Lust.»

Und dann?

Konfrontieren Sie sie damit. Lassen Sie die Kolleginnen und Kollegen miteinander verhandeln, was #bettertogether für sie bedeutet. Dann müssen auch jene Farbe bekennen, die dieses Motto eigentlich nicht unterstützen.

Eine besondere Herausforderung im aktuellen Homeoffice-Kontext. Wie können Organisationen sicherstellen, dass das Wirgefühl nicht komplett verloren geht?

Leider müssen die meisten das erst noch herausfinden. Viele Arbeitgeber und Arbeitnehmer hatten Homeoffice vor der Krise kategorisch abgelehnt. Dabei propagiert die Arbeitspsychologie Homeoffice schon seit 30 Jahren. Mit Ausbruch der Krise wurden die Leute dann von einem Tag auf den anderen heimgeschickt – und zwar alle, fünf Tage pro Woche, teilweise auch noch am Samstag. Jetzt ist es zu spät, um herausfinden, wie viel Homeoffice es in den einzelnen Rollen tatsächlich verträgt. Dafür hätte man vor der Krise einen Experimentierraum schaffen müssen. Doch diesen haben die meisten Unternehmen nicht gewährt.

Was raten Sie den Unternehmen für die Zeit nach der Krise?

Seid etwas experimentierfreudiger! Probiert verschiedene Konzepte aus, solange es euch gut geht, und nicht erst dann, wenn das Wasser bis zum Hals steht. Die Tabuisierung der Modernität in vielen Unternehmen rächt sich jetzt. Das ist die harte Realität.

Nun steht die Rückkehr aus dem Homeoffice bevor. Befürchten Sie einen Ausschlag des Pendels in das frühere Extrem?

Ja, leider werden viele erst mal wieder das alte Normal propagieren und zu den alten Gewohnheiten zurückkehren. Dabei gibt es einen Teil, der am liebsten zu Hause bleiben würde. Die Organisationen müssen jetzt genau hinschauen.

Wo liegt das Problem?

Viele fühlen sich ihrer Firma gar nicht mehr richtig verbunden. Sie haben gemerkt, dass sie das, was sie zu Hause am Schreibtisch machen, genauso gut für einen anderen Betrieb tun könnten.

Die Corporate Identity geht verloren?

Genau. Den Firmen muss am Herzen liegen, dass die Identifikation mit dem Unternehmen nicht verloren geht. Hier kommt Ihr Motto wieder ins Spiel: Die Reflexion über die vergangenen anderthalb Jahre geschieht besser gemeinsam. Finden Sie gemeinsam heraus, wie viel von jedem einzelnen Job vor Ort und wie viel zu Hause gemacht werden kann.

Wovon hängt das ab?

Von den konkreten Aufgaben. Wenn ich von morgens bis abends irgendwelche Excel-Sheets ausfülle, kann ich das von irgendwo auf der Welt tun. Dafür braucht es auch kein Zugehörigkeitsgefühl zur Organisation. Einem Chirurgen hingegen ist völlig klar: Ich halte zwar das Skalpell, es nützt mir aber nichts ohne die Anästhesistin, ohne das übrige Team, ohne die Blutbank im Hintergrund. Alleine kann sich der Chirurg mit seinem Skalpell vielleicht ein Butterbrot schmieren, aber niemanden operieren.

Unternehmen behaupten gerne, die Mitarbeitenden seien ihr höchstes Gut. Meinen die das ernst?

Ich denke schon. Welche Schlussfolgerung die Unternehmen daraus ziehen, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Die Sache ist viel zu kompliziert, als dass man sie einzig dem HR, den Organisationsentwicklern, den Gewerkschaften oder den Arbeitgebervertretern überlassen könnte. Auch dies ist eine Arbeit, die alle gemeinsam leisten müssen.

Und wie funktioniert das am besten?

Fragen Sie Ihre Mitarbeitenden: Was macht dich an deinem Arbeitsplatz zufrieden? Aber bitte nicht mit einem Fragebogen mit 26 Fragen, aus dem ein Mittelwert resultiert. Was jemanden bei der Arbeit glücklich macht, ist höchst subjektiv. Was für Sie Sinn ergibt, muss für mich noch lange keinen Sinn machen. Und über diese Unterschiede gibt es auch nichts zu streiten. Sinn ist nicht demokratisierbar.

Gibt es etwas, das die meisten Arbeitnehmenden zufrieden macht?

Geld natürlich – bis zu einem gewissen Grad. Doch da gibt es bei den meisten Organisationen noch Luft nach oben.

Und darüber hinaus?

Es gibt viele Mitarbeitende, die nicht mehr Geld wollen, sondern sich sinnvollere Aufgaben wünschen. Sie wären bereit, für sinnvollere Aufgaben ein Stück von ihrem Status abzugeben und sogar einen Teil ihrer Karriere zu opfern.

Womit wir wieder bei der Sinnfrage wären.

Sehen Sie, im Mittelalter war der Sinn durch Gott gegeben. Man fand ihn gegebenenfalls im Gebet oder in der Meditation. Davon haben wir uns ein Stück weit befreit. Heute bastelt jeder selbst an seinem Lebenssinn. Wir sind eigentliche Sinnbastler geworden. Und das nicht mehr nur im Privaten, sondern auch bei der Arbeit. Auch im Unternehmen will ich einbringen und keine Sinnfinsternis erleben. Organisationen müssen sich in Zukunft auf dieses Wagnis einlassen, wenn sie zufriedene Mitarbeitende wollen.

Unser Lebenssinn ist also abhängig vom Arbeitsplatz und von der Arbeitsgestaltung?

Ich würde sagen von der Vereinbarkeit von Arbeit und den anderen Lebensdomänen. Es reicht nicht, nur in der Freizeit etwas Sinnvolles zu tun. Es reicht auch nicht, in der Familie Sinn zu finden. Der Mensch will auch am Arbeitsplatz Sinnhaftigkeit erfahren. Es heisst, Arbeit sei das halbe Leben. Für mich als Arbeitswissenschaftler funktioniert diese Trennung nicht. Für die andere Hälfte ist das, was ich aus meiner Arbeit mitnehme, genauso zentral.

Dass Arbeit für viele einfach ein Job ist, lassen Sie nicht gelten?

Ich erinnere mich an Interviews mit einem Metzger, der bei einem Fleischgrossverarbeiter arbeitete. Der Metzger sagte mir: «Ach, wissen Sie, Wurst mache ich zu Hause. Hier schlachte ich Vieh.» Diese Aussage erschreckt mich heute noch. Man kann nicht täglich acht Stunden «Tiere verwerten» und sich zu Hause einbilden, man würde noch Wurst machen. Dabei wird man schizophren. Das führt unweigerlich zum Burn-out.

Viele Arbeiten sind heute relativ abstrakt. Wie findet man darin noch Sinn?

Da hilft nur eins: Reden Sie bei der Arbeit über Ihre Arbeit! Damit Sie auch am Abend Ihrer Partnerin oder Ihrem Onkel in wenigen Worten erklären können, was Sie da eigentlich den ganzen Tag lang gemacht haben.

Wo sind die Grenzen von #bettertogether, was macht man also besser allein?

Das kann man nicht verallgemeinern. Es gibt Menschen, die wollen sich zum Beispiel auf eine Sitzung in Ruhe vorbereiten. Und sie wollen auch anschliessend nicht im Kaffeeraum gleich alles wieder zerquasseln. Im Gespräch mit den Menschen findet man heraus, wer wie tickt.

Acht Stunden Arbeit am Tag ist immer noch der Standard – mindestens. Ist das heute noch sinnvoll?

Ganz sicher nicht. Es fand in den letzten Jahrzehnten eine irrsinnige Verdichtung der Arbeit statt. Vor 30 Jahren gab es für die gleiche Arbeit, die wir heute verrichten, doppelt so viele Arbeitnehmende. Schauen Sie sich Ihren Job an: Das Interview, welches Sie gerade mit mir führen, hätten Sie früher zum Abtippen der Sekretärin überreicht. Diese hätte zuvor auch den Gesprächstermin für uns vereinbart und uns den Link zum Videocall geschickt. Heute machen Sie das alles selbst. Sie machen quasi #bettertogether ganz alleine. Ob das ganzheitlich ist? Das würde ich gerne mit Ihnen diskutieren. Dabei geht es nicht um Effizienz, sondern darum, dass die Arbeit für Sie besser wird. Durch mehr freien Raum entsteht auch mehr Kreativität. Doch das Kontemplative, die Musse in der Arbeit haben wir vollkommen herauskollaboriert – ist angeblich unproduktiv.

Wie wichtig ist Musse bei der Arbeit?

Sie ist zentral. Auch ein Mitarbeiter am Fliessband braucht Verschnaufpausen. Früher konnte er einfach ein paar Takte vorarbeiten. Das gibt es heute nur noch selten, alles ist streng durchgetaktet, alles ist jetzt angeblich effizienter.

Was halten Sie von der 42-Stunden-Woche?

Die 42-Stunden-Woche ist calvinistisch. Selbst 40 Stunden pro Woche sind zu viel. Wir könnten unsere Arbeit aufteilen – nicht nur geografisch, sondern auch zeitlich. Wieso gehen wir nicht von einer Jahresarbeitszeit aus? Alle Welt redet von Flexibilität – ausser bei der Arbeitszeit.

Warum?

Um 8 Uhr gehen die Kinder in die Schule, die Kleinkinder in die Kita. Dann beginnt meine Kernarbeitszeit … Es ist eine Vertaktung der Welt, dagegen ist die McDonaldisierung nichts. Diese Vertaktung wieder aufzulösen und Lebensrhythmen zu finden, ist eine grosse Herausforderung.