Selbst die Gegner der Abstimmungsvorlage vom 15. Mai bestreiten nicht, dass ein Ausscheiden der Schweiz aus dem europäischen Visumraum «Schengen» der Tourismusdestination Schweiz extrem schaden würde. Stattdessen lautet ihr Einwand lapidar: «So weit wird es schon nicht kommen.» Doch das ist ein Irrtum. Der Vertragstext ist in diesem Punkt eindeutig und wird von Rechtsexperten nicht infrage gestellt: Wenn die Schweiz eine Weiterentwicklung von Schengen nicht übernimmt, tritt das Abkommen gemäss Artikel 7 Absatz 4 sechs Monate nach einem Volks-Nein automatisch ausser Kraft. Noch vor Ende Jahrwürde die Schweiz also zum Drittstaat, zur EU-Aussengrenze und zur Visuminsel.
Es hilft auch nicht, dass unsere Nachbarländer selbst kein Interesse an Grenzkontrollen oder einer Lücke im Sicherheitsdispositiv haben mögen: Der Vertag zwingt sie, entsprechend zu handeln. Aufhalten könnte eine automatische Kündigung lediglich der gemischte Ausschuss, bestehend aus der EU-Kommission, ihren Mitgliedsstaaten und der Schweiz. Doch auch diese Möglichkeit hat einen grossen Haken, denn der Entscheid müsste einstimmig zugunsten einer «Extrawurst» für die Schweiz fallen – von Lettland bis Portugal. Und das nach dem unschönen Verhandlungsabbruch zum Rahmenabkommen und in einer Zeit, in der Europa zusammenrückt angesichts des Kriegs in der Ukraine. Darauf zu hoffen, ist schlicht naiv.
Besonders irritierend sind solche Einwände aus Kreisen der politischen Linken. Noch vor drei Jahren liessen SP und Grüne nämlich keinen Zweifel am Kündigungsautomatismus. Tatsächlich stimmte die Schweizer Bevölkerung bereits 2019 über die Übernahme der EU-Waffenrichtlinie und damit wie heute indirekt über die Weiterführung von Schengen ab. Damals ergriffen die Schützen das Referendum, und SP und Grüne engagierten sich für ein Ja.
Der Entscheid für eine Schweizer ‹Extrawurst› müsste einstimmig fallen – darauf zu hoffen, ist schlicht naiv.
Der Auslöser hat sich zwar geändert, aber die Konsequenzen und der Automatismus sind heute genau die gleichen. Damals schrieben beispielsweise die Grünen in ihrer Abstimmungsempfehlung: «Als assoziiertes Mitglied des Schengen-Raums muss die Schweiz die neuen Bestimmungen […] übernehmen. Im Falle einer Ablehnung der Richtlinie wird die Schweiz aus dem Schengen-Dublin-Abkommen ausgeschlossen.» Nicht so 2022. In einem Beitrag der «Tageschau» vom 15. April zur Betroffenheit der Tourismusbranche stritten die Grünen kurzerhand ab, dass es zu einer Kündigung kommen würde.
Auch in Zukunft wird es Weiterentwicklungen bei Schengen geben, die zu einem Referendum führen. Bei jeder Abstimmung geht es dann ums Ganze, wie 2019 beim Waffenrecht oder aktuell bei Frontex: mitmachen und Verantwortung übernehmen – oder ausscheiden und alle Vorteile verlieren. Weil die Schengen-Mitgliedschaft der Schweiz für den Tourismus so wichtig ist, braucht unsere Branche am 15. Mai ein klares Ja. Denn das ist auch ein deutliches Zeichen an zukünftige Referendumskomitees: Der Schweizer Tourismus und die Schweizer Bevölkerung stehen hinter Schengen.
Nicole Brändle, Leiterin Arbeit, Bildung, Politik bei HotellerieSuisse