Herr Kurmann, übernachten Sie oft in Jugendherbergen?
Ich weiss, wie eine Jugendherberge von innen aussieht, und übernachte dort regelmässig, ja.
Was macht eigentlich den Reiz einer Jugendherberge aus – mal abgesehen vom günstigen Preis?
In der Jugendherberge gibt es grosse Aufenthaltsräume und grosse Tische, an denen man sich trifft und miteinander ins Gespräch kommt. Es ist ein sehr internationales und junges Publikum, das sich hiervon besonders angesprochen fühlt. Man lernt Menschen aus unterschiedlichen Kulturen kennen und wird Teil einer grossen Familie. Auf diese Weise betreiben wir übrigens seit vielen Jahrzehnten aktive Friedensförderung.
Der Luzerner Stephan Kurmann (62) ist seit 1. September 2020 Präsident von Hostelling International. Die letzten vier Jahre amtete er bereits als Vizepräsident. Von 1995 bis 2018 nahm er Einsitz im Vorstand der Schweizer Jugendherbergen, ab 1999 als Präsident. Kurmann ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.
Hostelling International durchlebte bewegte Gründungsjahre. Der erste Präsident, der Deutsche Richard Schirrmann, wurde 1936 von den Nationalsozialisten gezwungen, sein Amt aufzugeben. Heute versteht sich Ihr Verband als Wohltätigkeitsorganisation. Diese Anfangszeit scheint sehr prägend für Ihre Organisation gewesen zu sein.
Ganz klar. Die Jugendherbergen sind aus der Wanderbewegung in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts hervorgegangen. Damals waren sie noch viel dichter gesät als heute, alle 20 bis 30 Kilometer in Laufdistanz zueinander. Als auch andere Länder begannen, Jugendherbergen zu bauen, merkte man bereits, wie das die Menschen miteinander verbindet. Aber die Grundwerte von heute sind ganz klar ein Kind des Zweiten Weltkriegs. So richtig zum Tragen kam der völkerverbindende Charakter der Jugendherbergen erst mit der Zunahme der Reisetätigkeit nach dem Krieg.
Dementsprechend wichtig ist der internationale Markt?
Das ist von Land zu Land unterschiedlich. In Deutschland beträgt der Anteil der inländischen Gäste 90 Prozent. Das liegt an den Schulgruppen, die die Jugendherbergen sehr stark frequentieren. In anderen grossen Märkten ist die Situation ähnlich. In der Schweiz hingegen waren wir in den besten Zeiten bei fast 50 Prozent Ausländeranteil. Allerdings verloren wir 2015 durch den Frankenschock bereits europäische Marktanteile, der Anteil der Schweizer Übernachtungen lag vor Corona bei ungefähr drei Vierteln.
Der Gedanke, Zimmer, Bad und Küche mit fremden Menschen zu teilen, hat im Zuge der Corona-Krise viel von seinem Charme eingebüsst. Was bedeutet Covid-19 für die Jugendherbergen?
Eine grosse Herausforderung. Wir sind gleich doppelt gefordert: Wie alle Beherberger mussten wir entsprechende Konzepte und bauliche Massnahmen umsetzen, was sich aber negativ auf die Auslastung auswirkt, da wir teilweise weniger Gäste beherbergen können. Zudem erleben wir den praktisch vollständigen Zusammenbruch des internationalen Tourismus. Das Bild in den Schweizer Jugendherbergen ist ähnlich wie in den Hotels: In den Bergen lief das Sommergeschäft relativ gut, in den Städten sind die Betriebe leer. Hinzu kommt, dass die günstigen Angebote in den Jugendherbergen sehr anfällig gegenüber Corona-bedingten Preissenkungen in der 3- und 4-Sterne-Hotellerie sind. Wenn die Hotels ihre Preise drücken, um ihre Auslastung zu erhöhen, dann sind sie schnell mal auf dem Preisniveau einer Jugendherberge. Darunter leiden die Betriebe extrem. Die Schweizer Jugendherbergen werden Ende Jahr ein negatives Resultat ausweisen.
Kommt hinzu, dass in der Hotellerie neue Lifestyle-Konzepte wie Moxy oder Meininger auf den Markt drängen, mit trendigen Community-Areas und Gemeinschaftsküchen. Das entsprach zumindest bis Anfang Jahr sehr dem Zeitgeist. Gräbt die Hotellerie den Jugendherbergen hier ungeachtet von Corona gerade das Wasser ab?
Rein auf der philosophischen Ebene ist das absolut so. Aber bei uns spielen der soziale Gedanke sowie das starke Netzwerk eine sehr zentrale Rolle. Daneben setzen wir aus Überzeugung weltweit stark auf ökologische Nachhaltigkeit und kommunizieren das auch entsprechend. Aber diese Betriebe kommen unserem Konzept sicher nahe, was sich natürlich auch auf den Wettbewerb auswirkt. Der kommerzielle Gedanke war bei den Jugendherbergen jedoch stets weniger ausgeprägt, das kommt bei den Gästen gut an.
Gleichzeitig werden Einzelzimmer in den Jugendherbergen immer beliebter und zahlreicher, die Jugendherberge also immer hotelähnlicher. Ist auch da eine Trendwende im Gang?
Die Schweizer Jugendherbergen versuchen, einen guten Mix anzubieten. In einigen Destinationen mussten zwar Konzessionen gemacht werden, aber die Wurzeln wurden nie verleugnet. In anderen Ländern wurde viel stärker in den Doppelzimmermarkt investiert und teilweise zum 3-Sterne-Bereich aufgeschlossen. Diese Rechnung geht jedoch nicht ganz auf, weil dabei der Grundgedanke der Jugendherbergen zu kurz kommt. Ausserdem sind wir dem 3-Sterne-Segment gebäude- und service-technisch nicht gewachsen. Eine Jugendherberge ist einfach ein anderes Produkt.
Wo wollen Sie während Ihrer Präsidentschaft Schwerpunkte setzen?
Wir befinden uns mitten in einer Restrukturierungsphase, die bis Ende Jahr abgeschlossen sein muss. Es ist dramatisch. Am Hauptsitz in London hatten wir mal 25 Leute, am Ende werden es noch 10 sein. Anschliessend müssen sich unsere Mitgliedsverbände auf eine angemessene Strategie einigen. Welche Services werden benötigt, und was dürfen sie kosten? Mir ist wichtig, dass wir das Stimmrecht überarbeiten. Der Einfluss eines Landes muss mit seinem finanziellen Beitrag übereinstimmen. Wir haben sehr viele kleine Länder, die in der Summe viel Stimmgewicht haben, aber sehr wenig einzahlen. Bei einigen Entscheiden sorgten sie mit ihrem Übergewicht für viel Unruhe im internationalen Verband. Ziel muss sein, dass sich alle Mitglieder ernst genommen fühlen – unabhängig von ihrer Grösse.
Hostelling International wurde 1932 unter Beteiligung von elf europäischen Ländern gegründet. Heute vereint der Dachverband 64 nationale Jugendherbergeverbände und 3,8 Millionen Mitglieder. Insgesamt sind 3100 Hostels in 81 Ländern an die Organisation angeschlossen, die jährlich 33 Millionen Logiernächte verbuchen.
patrick timmann