David Bosshart, die letzten zwei Jahre Pandemie haben uns gezeigt, wie fragil unsere Realität ist. Wie gehen wir nun mit dieser Erkenntnis um?
Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche sagte, dass Menschen Illusionen liebten, dies aber kostspielig sei. Das Zerstören von Illusionen ist jedoch noch kostspieliger, denn Menschen brauchen Hoffnung. Die meisten Menschen leben am liebsten in ihrer Bubble. Wir sind Weltmeister im Verdrängen von aufkommenden Herausforderungen und in der Prokrastination von Lösungen. Doch die statistische Wahrscheinlichkeit, dass die Welt von Pandemien, von zu hoher Verschuldung, Klimawandel, Inflation, Krieg und Terror – Putin hatte bereits vor über zehn Jahren angekündigt, dass er die Ukraine zerstören wird – aller Art gebeutelt wird, hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Und nun, wo es scheint, dass wir langsam am Ende des Pandemietunnels angekommen sind, müssen wir schauen, wie wir aktiv neue Realitäten erfinden. Es ist an der Zeit, zu prüfen, was wir besser machen können. Denn die «alte» Normalität hat uns genau diese Probleme beschert.
Dank digitalen Technologien haben wir rasch einen Umgang mit der Pandemie gefunden. Kann ein solches Ereignis Gesellschaften – trotz vielen Spaltungen – auch stärker machen?
Digitale Technologien haben uns tatsächlich geholfen, anschlussfähig zu bleiben. Das ist wunderbar. Aber das sind nur Hilfsmittel. Diese Tools dürfen nicht als Heil bringender Selbstzweck verstanden werden. Denn wir haben in dieser Pandemie mehr denn je Zeit online verbracht, E-Mails verschickt, Breaking News und Liveticker konsumiert und uns an Onlineshopping und sofortige Hauslieferungen gewöhnt. Das macht uns als Gesellschaft nicht stärker oder robuster, sondern anfälliger. Wir leben immer mehr im Jetzt-Modus und verschieben das Lösen von Problemen auf morgen oder noch lieber auf irgendwann.
Während sich die Pandemie entschärfte, griff Russland die Ukraine an. Wie wird sich dieser Konflikt auf den Schweizer Tourismus auswirken?
Wenn wir sehen, wie international vernetzt die Folgen dieses im Moment noch regional begrenzten Krieges sind, kann sich auf einer Skala von 1 bis 10 alles ereignen. Kurz- bis mittelfristig zwischen 3, da können wir die Auswirkungen gerade noch begrenzen. Und 10, mit einem nächsten Weltkrieg mit unbekannten Einschränkungen.
Wir leben immer mehr im Jetzt-Modus und verschieben das Lösen von Problemen auf morgen.
Der Tourismus und die Hospitality-Branche waren von der Pandemie stark betroffen. Wie kann sich die Branche jetzt wieder auf Kurs bringen?
Wir brauchen mehr denn je unternehmerischen Mut, Lust auf Veränderung und Durchsetzungsstärke, welche die ganze Branche weiterbringen. Bis Anfang 2020 waren die Zeichen für den Tourismus und die Hotellerie überaus positiv. Während der Pandemie war es wichtig, dass die Betriebe staatliche Unterstützung erhielten. Doch nun ist alles anders. Es müssen neue Realitäten geschaffen werden. Wer jetzt proaktiv vorangeht, hat Vorteile gegenüber den Zauderern. Können und Wissen genügen nicht, es braucht auch einen starken Willen und den Glauben, die Dinge positiv verändern zu können.
Wie könnte dies konkret aussehen?
Man sollte sich als Unternehmer fragen, was ein Hotel wirklich ausmacht. Ist es ein Ort, wo man einfach essen und schlafen kann? Oder ein Ort des Slow Living, ein Ort der Regeneration, ein Ort des Socializing oder ein Ort des Rückzugs? Zwischen «voll automatisiert» und «voll analog» sind Antworten offener denn je. Ein Hotel muss sich der Seelenlage der Menschen anpassen können, damit diese sich wohlfühlen. Zudem sollte man sich überlegen, von wem man lernen kann. Jetzt gerade viel von Modeanbietern wie Gucci, Uniqlo oder Tommy Hilfiger.
Besteht da nicht die Gefahr, Konzepte zu kopieren?
Man muss den Mut haben, selbstständig zu denken, ein eigenes Konzept zu entwickeln und sich nicht an Bestehendem zu orientieren. Wer angstgetrieben ist, kopiert zu viel. So begibt man sich sofort in den Preiskampf. Die wichtigste Frage lautet immer: Was will ich wem anbieten? Gute Anschauungsbeispiele finde ich etwa die Konzepte von «Citizen M» und «25 hours Hotels». Beide Konzepte haben sich sehr schnell etabliert, mit einem klar definierten Angebot und Zielpublikum. In der 4-Sterne-Hotellerie gibt es wohl am meisten Spielraum für innovative Positionierungen. Schwieriger wird es für 3-Sterne-Familienhotels, die nicht sehr kapitalstark aufgestellt sind. Dann lautet die Frage: Gibt es Low-Cost-Modelle, die eine gute Profitabilität garantieren? Gibt es einfache Innovationen, die den Unterschied machen?
Menschen in der westlichen Welt sind längst Indoor-Menschen. 90 Prozent unserer Zeit verbringen wir in Innenräumen.
Das Angebot kann noch so gut sein, ohne Gäste geht gar nichts. Hat die Erfahrung der Pandemie das Ausgehverhalten der Gäste verändert?
Momentan ist die Sehnsucht, auszugehen und zu feiern, sehr gross. Doch gleichzeitig hat die Pandemie einen Langzeittrend beschleunigt: Wir werden Schritt für Schritt wieder zu Höhlenmenschen, die sich in ihre eigenen vier Wände zurückziehen. Menschen in der westlichen Welt – immer mehr auch global – sind längst Indoor-Menschen. 90 Prozent unserer Zeit verbringen wir in Innenräumen. In den USA sind es sogar 93 Prozent. Klimawandel und extreme Wetterlagen verstärken diesen Trend noch zusätzlich. Urbane Zentren und Agglos sind durch Verkehr, Abgase, Beton und Stahl in den letzten Jahren um mehrere Grad wärmer geworden. Daher wird auch immer mehr in die Tiefe gebaut, etwa in Singapur oder Toronto. So leben wir mit unseren digitalen Geräten in Scheinwelten. Die neue Welt wird wie permanentes Kino. Das Metaversum, das nun am Entstehen ist und Investoren aus allen Branchen auf den Plan ruft, bietet eine scheinsichere Parallelwelt: intensive Spiele, immersive Unterhaltung, Partys auf Luxusjachten und endloses Shopping. Eigene Währungen und die Garantie, vor einer Pandemie wie Covid in Sicherheit zu sein.
Kleine Fluchten aus dem Alltag?
Ich glaube, das Metaversum wird eine ultimative Fluchtwelt sein, in der man überallhin verreisen kann. Etwa nach Venedig. Man gleitet in Gondeln durch die Kanäle, trinkt auf der Piazza San Marco einen Espresso und streift durch die Quartiere. Oder man begibt sich abends nach einem anstrengenden Tag auf Safari. Diese Welt ist nun am Entstehen. 2021 kündigte Mark Zuckerberg an, dass er sich mit Facebook auf die Entwicklung des Metaversums konzentrieren will. Zudem sind alle grossen Anbieter im Luxus- und Retail-Bereich sowie Kettengastronomen wie McDonald’s und Massenhändlern wie Walmart oder Carrefour daran, ihre Parallelwelten im Metaversum zu schaffen.
Ein Mann der Analyse von Trends und Entwicklungen unserer Zeit
David Bosshart (62) ist Inhaber von Bosshart & Partners, Advisory Board Member in Retail, Hospitality und Akademie, Präsident der Duttweiler-Stiftung, Executive Advisor, Autor und Referent. Davor war er 22 Jahre CEO des GDI Gottlieb-Duttweiler-Instituts. Der Philosoph und Trendanalytiker befasst sich mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, der Digitalisierung und der Zukunft des Konsumverhaltens. Zudem ist er Keynote-Speaker, Autor und Co-Autor von Büchern, Studien und Fachartikeln. Der gebürtige Thurgauer ist gelernter Kaufmann und schloss sein Studium mit dem Doktortitel in Philosophie und politischer Theorie an der Universität Zürich ab. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. (bbe)
Das Ende des analogen Erlebnisses?
Nein, ganz im Gegenteil. Analog wird wertvoller, aber auch das muss man sich leisten können. Der grosse Luxus wird sein, in einem Hotel auf einer Terrasse die frische, gute Luft einzuatmen und lustvoll Zeit mit anderen Menschen zu geniessen. Ein Lunch im Freien, eine Party mit echten Menschen in einem schönen Hotelgarten oder ein Apéro auf einer Terrasse. In den nächsten 50 Jahren wird der alpine Raum mit seinem Kernangebot wie etwa Morgenfrische, mässigen Sommertemperaturen und echtem Schnee zulegen. Das ist die Chance der Schweiz von morgen.
Welchen Einfluss wird das Metaversum auf das Reisen haben?
Friktionsloses Reisen wird in Zukunft schwieriger. Lange Zeit hatten wir gerade in der Schweiz das Gefühl, je weiter weg ein Reiseziel liegt, umso besser. Fakt ist, dass beliebiges Sich-Bewegen komplizierter und unangenehmer wird. Zudem wird das Reisen immer teurer. Daran wird kein Weg vorbeiführen. Da wird wohl das Metaversum zu einem Zufluchtsort werden, um zu spielen und sich zu unterhalten.
In der Pandemie haben viele Schweizerinnen und Schweizer das Lokale entdeckt. Ist das von Bestand?
In den letzten zwei Jahren haben wir gemerkt, dass wir fast alles innerhalb unserer Landesgrenzen verfügbar haben und alle Destinationen in wenigen Stunden ziemlich bequem erreichen. Diese Erkenntnis wird in diesen unsicheren Zeiten weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Gerade auch, weil die Schweiz hier mit sozialer Nähe und Vertrautheit punkten kann.
Wie sollte der Schweizer Tourismus darauf reagieren?
Der alpine Raum beginnt in Monaco und geht bis Wien. Trotz aller Krisen leben wir in einer immer vernetzteren Welt – ohne gemeinsame Anstrengungen kommen wir nicht vorwärts. Die verschiedenen Akteure sollten ihr Silodenken und ihren Egoismus ablegen und gemeinsam Wege finden, wie zwischen Hotellerie, Tourismus, Handel, Politik und Lieferanten aller Art gemeinsam mehr herausgeholt werden kann.
Weniger ist mehr, dies haben viele Menschen während der Pandemie schätzen gelernt. Weniger Aktivitäten, weniger Konsum, dafür mehr Ruhe und mehr Zeit. Wird dies das Ferien- und Reiseverhalten verändern?
Vieles davon halte ich für sehr vernünftig und begrüssenswert. Ich habe mich bereits vor zehn Jahren beim Schreiben des Buches «The Age of Less» damit befasst. Man muss sich diese Haltung aber auch leisten können. All dies ist Ausdruck einer hohen vergangenen Erlebnisqualität. Freiwillig «einfach» wird man nur, wenn man fast schon alles hat. Und nicht nur ein Individuum muss sich diese Reduktion leisten können, sondern auch eine Gesellschaft.
Können Sie dies etwas ausführen?
Der Kapitalismus ist eine wunderbare, effiziente Maschine, aber nur, solange sie Wachstum produziert. Dementsprechend ist unsere westliche Wohlstandsgesellschaft auf permanentes Wachstum angewiesen. Wir müssen unsere Sozialleistungen und Gesundheitskosten finanzieren. So wird die Frage lauten, wie wir ein ökologisch vertretbares Wachstum schaffen können. Dies – wie auch die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen – wird viel länger dauern als vermutet. Denn wir Menschen können nicht zu viel Wandel verkraften. Es wird kluge Verbindungen von staatlichen Massnahmen und freiem Markt brauchen. Wollen wir schrumpfen, dann brauchen wir einen schlauen Businessplan. Und beim Schrumpfen ist es leider immer so, dass jene, die wenig haben, als Erste noch weniger haben werden.
Die Wahrscheinlichkeit wird grösser, dass wir von Krisen aller Art heimgesucht werden. Was ist zu tun?
Grosse Flexibilität und unternehmerischer Geist werden gefragt sein. Es gibt zum Glück in der Hotellerie viele eigenwillige Leute, die innovative Konzepte durchziehen. An diesen Vorbildern sollte man sich orientieren. Hilfreich sind sicher auch flexible Kooperationen, damit Synergien genutzt werden können.