Der Ballungsraum Gross-Genf, der einen Teil der französischen der französischen Departemente Ain und Haute-Savoie und den westlichen Teil der Waadt um Nyon einschliesst, leidet seit Jahren unter dem stetig wachsenden Autoverkehr. Über einer Million Menschen wohnen in den 212 Gemeinden. Doch trotz der geografischen Nähe fehlt der Zusammenhalt zwischen den Bewohnern Gross-Genfs.
Das zukünftige Schienennetz soll dies ändern. Es wird sich über 230 Kilometer erstrecken und 45 Bahnhöfe bedienen. Vor einem Jahr nahm der Léman Express seinen Teilbetrieb auf. Am 15. Dezember schaltet die S-Bahn auf Vollbetrieb.
Rückgrat wird die teilweise neu gebaute Strecke Cornavin-Eaux-Vives-Annemasse sein. Die Kosten sind in der Schweiz auf 1,56 Milliarden Franken und in Frankreich auf 235 Millionen Euro budgetiert.
Politische Meinungsunterschiede
«Umfragen der vergangenen Jahre zeigten, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Region recht gering ist», sagt Vincent Kaufmann, Leiter des Instituts für Stadtsoziologie der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL) der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Dies sei insbesondere auf politische Meinungsverschiedenheiten beiderseits der Grenze zurückzuführen.
Jüngstes Beispiel ist die Weigerung Genfs, Kinder aus dem benachbarten Frankreich im Westschweizer Kanton einzuschulen. «Auch dass Genf 2014 ablehnte, in der Haute-Savoie fünf Park-and-Ride-Anlagen mitzufinanzieren, hinterliess Spuren», sagt Kaufmann.
[IMG 2]
Mitbewohner im selben Territorium
Die Einführung des Léman Express könnte die Situation jedoch nachhaltig verändern und die Bewohner der Region wie «Mitbewohner im selben Territorium» fühlen lassen, um den Bürgermeister von Annemasse (F), Christian Dupessey, zu zitieren. «Es ist schwierig, Vorhersagen zu treffen, aber das Image des Grossraums Genf dürfte sich in kleinen Schritten verbessern», sagt Kaufmann.
Auch nach Ansicht von Joël Vetter, Projektleiter Verkehr im Grossraum Genf, birgt der Léman Express viel Potenzial für Verbesserungen. «Wir werden uns leichter kennenlernen können und leichter entdecken können, wo wir wohnen. Die Bahn wird uns im wahrsten Sinne des Wortes zusammenbringen», zeigt sich Vetter überzeugt.
Am meisten profitieren vom neuen S-Bahnnetz werden die Pendler. Aber sie werden nicht die einzigen Nutzniesser sein. Der Léman Express sei für alle Arten der Nutzung, «für die Arbeit, aber auch für Kultur und Freizeit» konzipiert worden, erklärt Vetter.
Züge bis spät in der Nacht
«Die gute Nachricht für die Passagiere ist, dass das Angebot grosszügig ist. Es wird täglich und bis spät in die Nacht Züge geben», sagt der Stadtsoziologe Kaufmann. «Ein Genfer, der am Abend mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Annemasse fährt, um eine kulturelle Veranstaltung zu besuchen, kommt künftig genauso wieder nach Hause wie der Franzose, der an einem Sonntag am Genfer Strand Les Eaux-Vives schwimmen geht.»
Ob dies ausreiche, um die grenzüberschreitende Region zusammenzuführen, bleibe abzuwarten, sagte der EPFL-Soziologe nicht ganz ohne Skepsis. «Es wird – trotz des grossen Potenzials – sicher nicht über Nacht geschehen», dämpft er die Erwartungen. Er geht davon aus, dass das Interesse am Léman Express zumindest am Anfang vor allem in Frankreich grösser sein wird, wo heute «fast alle Bewohner zum Autofahren verurteilt» sind.
Rückgang des motorisierten Verkehrs
In der Stadt Genf selbst wird vor allem die Verbindung zwischen dem rechten und linken Ufer verbessert. Experten erwarten einen durchschnittlichen Rückgang des motorisierten Verkehrs am Stadteingang um 12 Prozent.
Die Entwicklung der Mobilität in der Region beschränkt sich nicht auf die Einführung des Léman Express. Weitere Projekte werden mehr oder weniger kurzfristig umgesetzt, wie etwa die ebenfalls für Ende 2019 geplante neue Buslinie zwischen Nyon und Gex (F). «Der 15. Dezember ist erst der Anfang von etwas Neuem», sagt Kaufmann. (sda)