Wer im Restaurant Ornellaia in der Zürcher Innenstadt Platz nimmt, lässt sich das Dessert meist nicht entgehen. Weder am Mittag noch am Abend. Und nun, seit Felicia Ludwig den Gault-Millau-Titel «Patissière des Jahres 2022» trägt, sind ihre Kreationen noch beliebter. «Die Gäste bedanken sich für meine feinen Desserts und gratulieren mir zum Titel», erzählt die zierliche Zuckerbäckerin. «Es ist ein grossartiges Gefühl und eine tolle Motivation», freut sie sich. Und es sei eine Bestätigung, dass es sich lohne, 13 bis 14 Stunden pro Tag in der Küche zu stehen.
Sowohl am Mittag als auch am Abend schickt sie durchschnittlich 30 Desserts. Das braucht eine gute Planung. Denn viel Platz steht der Patissière nicht zur Verfügung. Sei es an ihrem Posten in der offenen Küche, oder sei es, was den Stauraum anbelangt. So produziert sie jeweils für zwei Tage vor. Während des Services wird sie vom Team unterstützt. Demnächst auch von einer Praktikantin, die bei ihr Einblick ins Patisseriehandwerk erhält.
Von der abstrakten Informatik zur exakten Patisserie
Dass sie mal in einem Zürcher Punktelokal im Fokus der Aufmerksamkeit stehen würde, ahnte sie nicht, als sie in ihrer Jugend in Rumänien jeweils sonntags für ihre Familie und ihre Nachbarschaft Kuchen und Torten buk. Trotz ihrer offensichtlichen Leidenschaft fürs Backen entschied sie sich für eine Informatikausbildung. Für die Liebe verliess sie ein paar Jahre später ihr Heimatland. Ihre neue Wahlheimat erwies sich jedoch als hartes Pflaster, und die Ehe war schwierig. So beschloss Ludwig, ihrem Leben einen neuen Dreh zu geben, einen Job zu suchen und Deutsch zu lernen. In einem Gasthof in Schwäbisch Hall fand sie eine Anstellung als Abwascherin.
Ihr Chef realisierte schnell, dass sie viel Talent fürs Backen hatte – Ludwig brachte jeweils selbst gebackene Süssigkeiten mit. So bewog sie ihr Vorgesetzter dazu, eine Ausbildung zur Köchin oder Konditorin in Angriff zu nehmen. Sie entschied sich für die Kochlehre, denn so konnte sie die Ausbildung in dem Gasthof absolvieren. Der Anfang war entmutigend, zu mangelhaft war ihr Deutsch. «In der Berufsschule verstand ich praktisch kein Wort, und mit meinen 27 Jahren war ich die Älteste. Ich war verzweifelt und wollte die Ausbildung abbrechen», erinnert sich Ludwig.
Ich war verzweifelt und wollte die Ausbildung abbrechen.
Destination Schweiz: Wo es hingehen sollte, war bereits vor der Lehre klar
Ihr Arbeitgeber überzeugte sie, weiterzumachen. So setzte sie ihre Lehre mit zusammengebissenen Zähnen fort. Neben den sprachlichen Hürden hatte sie auch mit finanziellen Engpässen zu kämpfen. «Der kleine Lehrlingslohn reichte nirgends hin. Um über die Runden zu kommen, übernahm ich im Gasthof an den Wochenenden Aufgaben im Housekeeping», erzählt Ludwig. So arbeitete sie während der drei Jahre dauernden Ausbildung praktisch sieben Tage die Woche. Und hatte nach Lehrabschluss doch Schulden zu tilgen.
Dass sie nach der Ausbildung in die Schweiz kam, war kein Zufall: Kurz bevor Ludwig ihre Lehre anfing, hatte sie ihren Chef in die Schweiz begleitet. Und war begeistert – von den Bergen, von den Seen. «Ich habe mich auf Anhieb verliebt in das Land und wusste, dass ich nach meiner Ausbildung hierhin wollte», erinnert sich die Patissière. «Man muss Ziele haben im Leben.»
Vor sechs Jahren begann die Zusammenarbeit mit Antonio Colaianni
Ihre erste Stelle trat sie dann tatsächlich in der Schweiz an – in St. Moritz im «Suvretta House». Nach einer Saison wechselte sie ins «Eden Roc» nach Ascona. Dort, im Restaurant La Brezza, war sie bei Rolf Krapf zu 50 Prozent als Köchin und zu 50 Prozent als Patissière tätig. Im «La Brezza» kristallisierte sich heraus, dass sie die Patisserie zu ihrem Beruf machen wollte.
Antonio hat mich immer gepusht, Neues zu wagen. Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich heute bin.
Nach Ascona wechselte sie nach Zürich ins «Clouds», und vor sechs Jahren begann die Zusammenarbeit mit Antonio Colaianni. Zuerst im «Mesa», dann im «Gustav» und nun im «Ornellaia», einem Gemeinschaftswerk des toskanischen Weinguts und der Familie Bindella. «Antonio hat mich immer gepusht, Neues zu wagen. Ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich heute bin.»
Die klassischen Rezepte dienen als Basis
Was sie von ihrem Chef und Förderer ebenfalls gelernt hat, ist der Einsatz von Säure in Desserts. «Antonio hat mir aufgezeigt, dass Säure Desserts leichter und frischer macht», sagt Ludwig. Überhaupt legt sie grossen Wert darauf, dass ihre Desserts bekömmlich daherkommen. Aus diesem Grund setzt sie nur laktosefreie Milch und Rahm ein, geht mit dem Zucker an die unterste mögliche Grenze und verwendet Kräuter und Gewürze. Und sie experimentiert mit veganen Desserts. [DOSSIER]
Doch bei aller Experimentierfreudigkeit sind die klassischen Rezepte als Ausgangslage ihr oberste Gebot. Auf dieser Basis interpretiert sie die Desserts neu oder dekonstruiert sie, um den Klassikern einen ungewohnten Twist zu verleihen. Dabei lässt ihr Colaianni viel Spielraum. Einzige Bedingung: Der Caffè freddo muss auf der Karte bleiben. Und sowieso, «Antonio hätte gerne etwas mehr Desserts italienischen Ursprungs auf der Karte», erzählt Ludwig in ihrem perfekten Deutsch und schmunzelt. Mit Sicherheit wird sie einen guten Weg finden, auch wenn ihr Herz für die französische Patisserie schlägt.
Neben ihrem fordernden Job gibt sie seit einiger Zeit auch Backkurse und plant ein eigenes Backbuch. Und als langfristiges Ziel träumt sie von einer eigenen Konditorei mit Café. Dass ihr kein Weg zu weit ist, hat sie ja bereits mehrfach bewiesen.
Bernadette Bissig