Vor 50 Jahren boomte der Tourismus. Mehr und mehr Leute konnten es sich leisten, in die Ferien und in die Schweiz zu fahren. Wo ein neuer Markt entsteht, herrscht oft Wildwuchs, und schnell gibts Zwist. So liefen 1972 die Diskussionen rund um Zuständigkeiten und Verantwortung im Reisebusiness heiss: Wer sollte den Incoming-Tourismus ankurbeln? Wer sollte die Reisen verkaufen – die Verkehrsvereine selbst oder einzig die Reisebüros?
1972 enervierte sich die hotelrevue gewaltig, dass Fremdenverkehrsvereine es wagten, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen und eigene Arrangements zu entwickeln. Es sei bei den Vereinen eine Verkaufswut ausgebrochen, diese sollten doch um Himmels willen bei ihren Aufgaben bleiben.
Viel Aktivismus in den lokalen Verkehrsbüros
Der Autor beschwerte sich, es gäbe regionale Verkehrsvereine, welche «die Initiative an sich reissen und den Markt selbst beeinflussen» und positionierte sich klar: Es sei besser, die Initiative «professionellen Reiseveranstaltern zu überlassen», die Angebote verkaufen und entwickeln sollten, weil sie auf die Märkte zugeschnitten sein müssten. Und davon hätten lokale Verkehrsbüros keine Ahnung. «Auf dieser Klaviatur muss man zu spielen verstehen.»
Überliesse man dies örtlichen Fremdenverkehrsvereinen, könne es sein, dass ein Ort wie Feldis – ein schöner Ort im Domleschg, aber kein touristischer Hotspot – versuchen würde, Überseetouristen für eine Woche in sein Dorf zu locken – weit weg von Eiger, Mönch, Jungfrau, Zermatt und Luzern. So bestünde die Gefahr, dass sie komplett unsinnige Angebote entwickeln würden.
Fehlende Incoming-Agentur
Doch offenbar fehlte es in der Branche an Engagement, ausländische Touristen anzulocken. Die hotelrevue bemängelte, dass sich in der Schweiz niemand genügend für den Incoming-Tourismus einsetzte, denn es sei halt einfacher, Reisen ins Ausland zu verkaufen.
Sie regte die Gründung einer schweizerischen Incoming-Gesellschaft an und die Produktion eines Katalogs zum Reiseziel Schweiz. Sie mahnte, dass Hotels und Reisebüros besser zusammenarbeiten müssten. Ganz untätig war die Branche aber nicht. Bald darauf präsentierte das Blatt den neuen Prospekt des Reisebüros Hotelplan: «Ferien in der Schweiz».
Die Fluggesellschaft ging hops: So schnell blieben Touristen auf der Insel sitzen
In Sachen Tourismus schielte die Schweiz Anfang der 70er-Jahre gerne auf ihren grossen Nachbarn: Deutschland war das Land der Reisegiganten, der Markt wuchs schnell, stand aber auf wackligen Füssen: Debakel wie das Swissair-Grounding gab es schon damals.
Innerhalb eines Jahres gingen in Deutschland vier Fluggesellschaften in Konkurs. 40'000 bis 80'000 Reisende blieben daraufhin im Ausland sitzen. Verantwortlich wollte niemand sein.
«Panik-Air» und «Air Kopfschmerz»
Das brachte das Blatt in Rage: Es sei an den Verbänden, die Touristen zu schützen. Der Deutsche Reisebüro-Verband habe «peinlich versagt». Der Autor enervierte sich ebenso, dass die Branche zwar die schwarzen Schafe kenne und sie als «Panik-Air» oder «Air Kopfschmerz» verspotte, ihre Namen aber nicht preisgebe und stattdessen weiterhin ihre Produkte kaufe und verkaufe.
In der Schweiz will man nicht in die Fallen des Massentourismus tappen. Der Schweizerische Fremdenverkehrsverband werfe anlässlich seiner GV denn auch substanzielle Fragen auf, lobte die hotelrevue. So frage man sich etwa: «Wie gross ist die Zahl der Touristen, die bestenfalls in der Schweiz Platz finden? Wie kann man den optimalen Ausbau eines Ferienortes oder einer Region bestimmen? Sind neue Kurorte erwünscht?» Ziel sei nicht die Expansion um jeden Preis: Man wolle nicht unbedacht expandieren! Qualität vor Quantität – das Credo gilt auch 50 Jahre später noch im Schweizer Tourismus.
Claudia Langenegger