Am 24. Februar ist das Unfassbare geschehen: Russland ist in der Ukraine einmarschiert. Gleichentags führten Schweiz Tourismus und der Zürcher Hotelier Verein (ZHV) ihre jährliche Medienkonferenz durch. Dabei kam die Frage auf, wie sehr der Konflikt den hiesigen Tourismus treffen könnte. Antwort: gleich dreifach – mit dem Ausbleiben der russischen Gäste, der sinkenden Zahl von Reisenden aus Übersee und den steigenden Rohstoffpreisen. Vor Corona machten Russinnen und Russen mit 360 000 Logiernächten einen Marktanteil von knapp einem Prozent aus. Ihr Ausbleiben wird hauptsächlich Zürich, Genf und das Engadin treffen, wo schweizweit am meisten russische Gäste absteigen.
Auch Reisende aus Übersee werden vermehrt fernbleiben. «Die Krise ist in den Augen einiger näher an der Schweiz, als sie tatsächlich ist», sagt Martin Nydegger von Schweiz Tourismus. Betroffen davon ist etwa der «Storchen Zürich». «Amerikanerinnen und Amerikaner buchen derzeit noch», sagt General Manager Jörg Arnold. «Wenn aber CNN weiterhin in Grossbuchstaben ‹War in Europe› auf seinem Kanal zeigt, wird es sicherlich bald Konsequenzen haben.»
Die Zahlen, Fakten und Prognosen waren schnell klar und bald schon kein Thema mehr in der Branche. Nach dem Schock über den Krieg hat sich Betroffenheit breitgemacht. «Natürlich wird dieser Krieg grosse Auswirkungen auf Tourismus und Hotellerie haben», meint Martin von Moos, Präsident der Zürcher Hoteliers. «Wenn ich aber von unseren ukrainischen Mitarbeitenden höre, was ihre Angehörigen in diesen Stunden durchmachen, dann sind Fragen zu den finanziellen Auswirkungen total nebensächlich.»
«Help for Ukraine» – so kann die Hotellerie helfen! HotellerieSuisse bietet auf der Website laufend aktualisierte Infos für alle an, die helfen wollen. Der Verband steht in engem Kontakt mit den Behörden, um das Angebot an Flüchtlingsunterkünften zu koordinieren. Interessierte Hotels sollen ihre Verfügbarkeiten unkompliziert erfassen können, und das Angebot soll zentral koordiniert werden. In den nächsten Tagen wird die entsprechende Plattform aufgeschaltet.
hotelleriesuisse.ch/ukraine
Ähnlich tönt es bei HotellerieSuisse-Direktor Claude Meier. «Es ist nicht der Moment, um über ökonomische Folgen nachzudenken», sagt er. «Im Zentrum steht die humanitäre Katastrophe.» HotellerieSuisse hat die Initiative «Help for Ukraine – so kann die Hotellerie helfen!» ins Leben gerufen und erarbeitet derzeit mit den Behörden eine Plattform, damit Hotelièren und Hoteliers ihre Zimmerkapazitäten unkompliziert melden können. Die Unterkünfte werden dann zentral koordiniert.
Die ersten Hotels haben längst reagiert. Kaum war der Krieg ausgebrochen, publizierten René und Anne Mäder vom Waldhotel Doldenhorn in Kandersteg online einen Aufruf, dass sie Menschen aus betroffenen Gebieten aufnehmen. «Für mich war es keine Frage, ob ich es tun soll, es ist für mich ein Muss zu helfen», sagt René Mäder. Er ist in Kontakt mit ukrainischen Familien, die von Polen auf dem Weg in die Schweiz sind. Er ist nicht der Einzige: Im Berner Bergdorf bieten beispielsweise auch Nicolas und Romy Seiler im «Alfa Soleil» und Lukas Eichenberger im «Ermitage» den Menschen auf der Flucht als Übergangsunterkunft ihre Betten an.
Hilfestellungen sind das eine, Sanktionen das andere. Sie betreffen nicht nur Flugverkehr, Öl- oder Gaslieferungen. Auch Künstler, die dem Kreml nahestehen, sind bei Kulturveranstaltern derzeit unerwünscht. Auch im Tourismus nimmt man Stellung: Die Schweizer Reederei MSC hat beispielsweise St. Petersburg von ihren Kreuzfahrtrouten gestrichen. STC Switzerland Travel Centre hat ebenfalls reagiert: STC nimmt vorläufig keine Buchungen mehr aus Russland an. «Wir könnten weiterhin russische Gäste einbuchen, aber es stimmt für uns im Moment nicht», sagt CEO Michael Maeder. «Wir können nicht so tun, als wäre nichts – als gäbe es den Krieg nicht.» Auch wegen der fehlenden Gäste aus Übersee macht er sich keine Sorgen. «Es ist nicht angebracht, Europa derzeit aktiv als sichere Destination zu bewerben, um zusätzliche Gäste anzulocken. Bevor nicht Waffenstillstand herrscht, ist das verantwortungslos.»
Auf ganz andere Weise betroffen vom Krieg ist die EHL mit 4025 Studierenden aus 125 Nationen, 12 davon aus der Ukraine, 75 aus Russland. Auf den drei Campus wurden Notfallnummern eingerichtet. Die Reaktionen waren zahlreich: nicht, weil viele Studierende psychologischen Support brauchten, sondern weil sie den Notleidenden des Krieges helfen wollen.
«Es gibt keinen Grund für einen Angriff»
Erich Gysling (85) ist Journalist, Publizist und Reiseleiter. Er war lange Jahre beim Schweizer Fernsehen tätig, unter anderem als Chefredaktor der «Tagesschau» und als Mitbegründer der «Rundschau». 1996 rief der Zürcher Politexperte die Reiseagentur Background Tours ins Leben. Er wird im Juni am Hospitality Summit als Gastredner auftreten.
Herr Gysling, warum ist Russland in der Ukraine einmarschiert? Putin hätte doch mit anderen Mitteln vorgehen können?
Das fragen wir uns alle. Es gibt keinen Grund für einen Angriff. Putin hat sich daran gestört, dass sich die Nato in den Osten erweitert hat. Doch schon 1997 hat Jelzin die Nato-Russland-Grundakte ratifiziert. Darin verpflichteten sich beide Seiten, die Souveränität aller Staaten zu achten, und Russland hat anerkannt, dass es kein Vetorecht gegen die Nato-Mitgliedschaft anderer Länder hat. Das hat auch Putin in späteren Verträgen bestätigt.[IMG 2]
Besteht die Gefahr eines Dritten Weltkriegs?
Das hoffen wir alle nicht. Die Nato ist darauf bedacht, nicht mit eigenen Truppen einzumarschieren. Deshalb richtet sie auch keine Flugverbotszone über der Ukraine ein, was der ukrainische Präsident Selenski fordert. Denn das hätte zur Folge, dass die Nato die Überflüge der russischen Armee stoppen müsste. Dann hätten wir einen flächendeckenden Krieg, und Putin wäre alles zuzutrauen, auch der Einsatz von Atomwaffen.
Was sind weitere, absehbare Folgen?
Für die Ukraine wird dieser Krieg wahnsinnige Auswirkungen haben: Zerstörung von Infrastruktur, zahllose menschliche Opfer und Flüchtlingsströme. Schon jetzt sind anderthalb Millionen Menschen auf der Flucht. Für den Westen stellen sich hauptsächlich wirtschaftliche Fragen – wie kommen wir ohne russisches Erdöl und Erdgas aus?
Kann man diesen Krieg mit anderen Kriegen vergleichen?
Einen derart massiven Eingriff wie jetzt, dass ein grosser Staat einen anderen grossen Staat angreift, das hatten wir noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ist es eine Art Neuauflage des Kalten Kriegs oder des Ost-West-Konfliktes?
Nein, der Kalte Krieg wurde 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion beendet. Im Kalten Krieg bestand nie die Situation, dass ein Staat einen anderen überfallen hat. 1962 kam es zur Kubakrise, weil die Russen Raketen in Kuba stationieren wollten, doch die Krise wurde diplomatisch gelöst. Der Krieg ist auch keine Weiterführung eines alten Ost-West-Konflikts. Es ist etwas ganz Neues. Die Nato hat osteuropäische Staaten auf deren Wunsch aufgenommen, das passt Putin überhaupt nicht.
Was ist Ihre Prognose, wie wird der Krieg weitergehen?
Es ist schwer zu sagen. Ich befürchte, dass der Konflikt lange andauern wird, vor allem in den Städten. Russland kann die Ukraine nicht voll besetzen. Es kann zwar Truppen hinschicken, hat aber damit keine Regierung oder Administration. Was Putin will, ist schlicht nicht durchführbar – nur zum Preis eines jahrelangen Guerillakriegs. Ob Putin das wirklich will, da habe ich meine Zweifel.
Wie wichtig sind die Solidaritätsaktionen für die Ukraine in Europa?
Das finde ich sehr wichtig und notwendig. Wir haben eine riesige Flüchtlingstragödie, die Zahl der flüchtenden Menschen wird noch massiv ansteigen. Es ist notwendig, dass wir Unterkünfte zur Verfügung stellen und das Administrative vereinfachen.
Der Dirigent Valery Gergiev wurde vom Verbier Festival ausgeladen, Sopranistin Anna Netrebko vom Opernhaus Zürich. Sollte man russische Künstler nun boykottieren?
Das ist eine schwierige Frage. Jeder Künstler befindet sich in einer anderen Situation. Netrebko hat zwar für Putin gesungen, hat aber keine enge Beziehung zum Kreml. Gergiev hingegen steht Putin sehr nahe. Im Kulturbereich sollte man jeden Fall einzeln anschauen.
Und was ist mit russischen Touristinnen und Touristen in der Schweiz?
Man kann nicht jeder Russin und jedem Russen vorwerfen, er stehe dem Kreml nahe. Sie werden aber zögern, in die Schweiz zu reisen, nicht nur, weil die Aus- und Einreise schwierig ist. Für Putin ist die Schweiz ein gegnerischer Staat, weil sie sich den Sanktionen der EU angeschlossen hat.
Das Hospitality Summit findet am 1. und 2. Juni 2022 in Zürich statt. Mehr Infos dazu auf hospitality-summit.ch