Urs Kessler, nach monatelangem Stillstand dürfen die Jungfraubahnen seit Samstag wieder uneingeschränkt Gäste befördern. Wie ist das Geschäft angelaufen?
Das schlechte Wetter hat die Nachfrage leider gedämpft. Nach besten Bedingungen an Ostern, Auffahrt und Pfingsten spielte ausgerechnet jetzt das Wetter nicht mit. Das tut weh.
Wie gross war bei Ihnen der krisenbedingte Gästeeinbruch?
Die Jungfraubahnen sind ein börsenkotiertes Unternehmen, daher darf ich Ihnen keine genauen Zahlen nennen. Um Ihnen dennoch eine Vorstellung zu geben: 70 Prozent unserer Gäste kommen aus Asien, die Hauptmärkte sind China, Südkorea und Indien. Bereits Ende Januar bekamen wir erste Auswirkungen von Corona zu spüren, da sich der chinesische Markt negativ entwickelte. Als es während meiner Verkaufsreise nach Asien Ende Februar in Italien schlimm wurde, war klar: Auch aus touristischer Sicht wird das ganz schwierig, da Italien ein zentraler Bestandteil jeder Europareise ist.
Urs Kessler stiess bereits 1987 zu den Jungfraubahnen. Während rund 14 Jahren war der eidg. dipl. Marketingleiter, dipl. Marketingplaner und Absolvent des SKU (Schweizerischer Kurs für Unternehmensführung) verantwortlich für Marketing und Betrieb des Unternehmens. Seit 2008 ist Kessler Vorsitzender der Geschäftsleitung und zuständig für die strategische Planung und Weiterentwicklung der Jungfraubahnen. Er ist bekannt für seinen direkten Führungsstil, etwa dann, wenn er persönlich nach Asien reist und wichtige Kontakte pflegt, um die Marke «Top of Europe» in den wichtigsten Herkunftsmärkten noch besser zu positionieren. Der 58-jährige Berner Oberländer ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
Wie gross ist der betriebswirtschaftliche Schaden, den die Jungfraubahnen davontragen werden?
Wir werden deutlich hinter den letzten Jahren zurückbleiben. Vom absoluten Rekordjahr 2019 sind wir in die grösste Tourismuskrise der jüngeren Geschichte geraten. Die genauen Auswirkungen werden wir erst abschätzen können, wenn der Betrieb wieder voll angelaufen ist.
Wird Ihr Unternehmen die Durststrecke ohne Schaden überstehen?
Wir sind als langfristig ausgerichtetes Unternehmen solide finanziert. Wir haben 70 Prozent der Mitarbeitenden in Kurzarbeit geschickt. Unser Ziel ist es nach wie vor, Entlassungen zu vermeiden. Wenn der asiatische Markt im Herbst wieder anzieht, sind wir zuversichtlich. Was mir persönlich mehr Sorgen macht: Momentan sind Hotellerie, Restauration und Bergbahnen stark betroffen. Aber spätestens ab Herbst wird es in den Berggebieten auch die Baubranche treffen, die Handwerker, Sanitäre und Elektriker. Welches Hotel kann jetzt noch gross investieren oder Zimmer sanieren? Wenn die touristischen Betriebe Investitionen zurückhalten, wird sich das auf die nachgelagerten Betriebe auswirken. Die Krise wird sich im nächsten Jahr durch die ganze Wertschöpfungskette ziehen. Das wird gravierende Auswirkungen haben.
Sie wurden jahrzehntelang vom Erfolg verwöhnt. Eine Krise wie diese ist eine ganz neue Situation für Sie. Wie gehen Sie damit um?
Eine Krise dieses Ausmasses habe ich in meinen 34 Jahren bei den Jungfraubahnen in der Tat noch nicht erlebt. Das Jungfraujoch blieb zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg für längere Zeit geschlossen. Das allein zeigt das Ausmass dieser Krise. Hinzu kommt: Innerhalb der letzten 13 Jahre verzeichneten wir 12 Rekordjahre. 2008 hatten wir 20 Millionen Jahresgewinn. 2019 waren es 53 Millionen. Das hat Spielraum für Investitionen eröffnet – und hat zu einer gewissen Erwartungshaltung geführt. Ich sage immer: Die grösste Gefahr für morgen ist der Erfolg von heute. Allein im Geschäftsjahr 2020 haben wir die Investitionen um 17,3 Millionen Franken gekürzt. Diesen mentalen Schalter umzulegen, diesen Kulturwandel herbeizuführen, ist die grösste Herausforderung für mich.
Spüren Sie in Ihrem Umfeld eigentlich eine gewisse Schadenfreude? Sie waren jahrelang der «Krösus» und nun müssen auch Sie sparen...
Neid muss man sich erarbeiten, der wird einem nicht geschenkt. In über drei Jahrzehnten bei den Jungfraubahnen habe ich gelernt, dass wir unseren eigenen Weg gehen müssen. Globalisierung heisst, auch in Zukunft vom Wirtschaftswachstum in Asien zu profitieren.
Stellt sich dieser starke Fokus auf den asiatischen Markt jetzt nicht als grosses Klumpenrisiko heraus? Wie wollen Sie da wieder herausfinden?
Ich habe die Finanz- und Wirtschaftskrise 1997/98 erlebt, den 11. September 2001, die Schweinegrippe usw. Jede Krise war auch immer eine Chance, und das wird auch diesmal so sein. Wir werden unsere Arbeit auf den Märkten noch verstärken, noch bessere Produkte anbieten. Ausserdem haben wir im Schweizer Markt seit Jahrzehnten mehr Geld investiert als in Asien. Der Heimmarkt ist immer die Lebensversicherung. 2020 ist ein Seuchenjahr, 2021 wird ein Übergangsjahr, und 2022 wird wieder ein normales Jahr.
Auf die Schweizer Gäste hoffen diesen Sommer viele Touristiker. Was können die Jungfraubahnen Spezielles bieten?
Wir haben mehrere Produkte lanciert: den «Top of Europe Pass», einen Dreitagespass speziell für Hotellerie, Campings und Parahotellerie, um Packages zu schnüren. Ich gehe davon aus, dass einige Schweizer für drei bis vier Tage zu uns in die Region kommen. Für jene, die öfter in die Region kommen wollen, haben wir den ersten «Jungfrau Corona Pass» kreiert, mit GA oder Halbtax bietet er für 299 Franken auf dem ganzen Netz freie Fahrt inklusive Männlichenbahn sowie unlimitierte Fahrten aufs Jungfraujoch.
In Europa öffnen die Grenzen früher als erwartet. Was machen Sie, wenn die Schweizerinnen und Schweizer ihre Sommerferien nun doch mehrheitlich im Ausland verbringen werden?
Ich war schon immer ein Verfechter des freien Marktes. Angebot und Nachfrage spielen. Wir müssen qualitativ so gut sein, dass wir den Schweizerinnen und Schweizern einen Grund geben, hier Ferien zu machen. Deswegen auch die zwei neuen Pässe. Oder unser «First Cliff Walk», der schöner als jedes Meer ist – es gibt genug Gründe, «daheim» zu bleiben und die Ferien in der Schweiz zu geniessen. Diese Gründe werden wir kommunizieren.
Wie sieht Ihre Werbung in Zukunft aus? Mehr Alleingänge oder eher mehr Koordination mit anderen Playern?
Wir wollen unsere Marke eigenständig positionieren. Seit dem 6. Juni schalten wir in der Schweiz TV-Werbung. Über Facebook und Instagram erreichen wir über 2,2 Millionen bzw. haben über 130 000 Follower. Auf Instagram sind wir die Nummer eins im ÖV in Europa. Noch diesen Monat werden wir zudem gemeinsam mit nationalen Firmen grosse Partnerschaften ankündigen. Daneben werden wir auch Massnahmen zusammen mit den Destinationen umsetzen. Was allerdings schwierig ist, da die finanziellen Mittel bei den Destinationen stark eingeschränkt sind. Den DMOs fehlt zurzeit das Geld für aktives Tourismusmarketing.
Die V-Bahn soll bereits am 5. Dezember 2020 eröffnen, eine Woche früher als geplant. Ist das ein «jetzt erst recht»?
Seit Ausbruch der Krise dominieren Negativmeldungen. Mir ist es wichtig, für den Tourismus in der Jungfrauregion und im Kanton Bern ein positives Signal zu setzen: Wir kommen mit dem besten Produkt der Alpen. Die V-Bahn wird uns allen helfen, gestärkt aus dieser Tourismuskrise hervorzugehen.
Sie versprechen sich von der V-Bahn unter anderem eine Kapazitätssteigerung. Passt das in Zeiten der Pandemie?
Oberstes Ziel war immer die Qualität, daran hat sich nichts geändert. Im Wintersport waren wir nicht mehr top, das muss man ganz ehrlich zugeben. Das Projekt V-Bahn hat den grossen Vorteil, dass sowohl der Wintertourismus als auch der Sommertourismus gestärkt werden. Mittelmass ist gerade in diesen Zeiten nicht gefragt. Die Erwartungshaltung der Gäste wird immer höher.
Aber erwartet der Gast neu nicht auch, dass er mehr Platz hat und sich die Gästeströme weniger kreuzen?
Es wird in Zukunft sicher mehr Individualreisende geben. Gleichzeitig reden alle von Entschleunigung. Das ist ein Modewort, auch jetzt in der Krise. Man will trotzdem eine möglichst kurze Reisezeit von A nach B mit möglichst viel Komfort. Genau das können wir in Zukunft bieten. Mehr Gäste wollen wir auf dem Jungfraujoch keineswegs. Unsere selbst auferlegte Kapazitätslimite von 5500 Jungfraujoch-Besuchern behalten wir bei. Aber wir wollen eine bessere Auslastung in den Randzeiten. Unsere Vision ist zwölf Monate Hochsaison. Und einen Durchschnittsertrag auf dem Jungfraujoch von 120 Franken pro Person – im Rekordjahr 2019 lag dieser übrigens bei 114.50 Franken. Damit sind wir im Alpenraum und vermutlich weltweit einzigartig.