Stefan Künzle, Sie haben vor 20 Jahren Informatik studiert. Darf man Sie als Nerd bezeichnen?

Nein, ich denke nicht. Es ist längst nicht so, dass ich permanent am Bildschirm hänge. Das verdanke ich nicht zuletzt meiner sechsjährigen Tochter und meinem zehn Monate alten Sohn.

Stefan Künzle trat im Juli 2020 die Nachfolge von Thomas Winkler als Leiter Digital Management bei Schweiz Tourismus an. Der Wirtschaftsingenieur absolvierte in den 1990er-Jahren zunächst eine Lehre als Elektroniker, bevor er an der Hochschule für Technik in Rapperswil SG Informatik studierte. Zuletzt war Künzle beim Schweizer Medizinaltechnikunternehmen Nobel Biocare als Head Global E-Commerce tätig. 2018 wurde er mit dem «Magento Commerce Ace Award» ausgezeichnet. Der 41-Jährige lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Uster ZH.

Was fasziniert Sie an der Informatik?

Das Interesse wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt: Mein Vater arbeitete 35 Jahre lang für IBM. Ich hatte schon früh einen Computer zu Hause und habe schon als Kind erste Programmierzeilen geschrieben. Die Faszination hat mich seither nicht mehr losgelassen. Zwar habe ich mich später zwischen Marketing und IT hin und her bewegt, und auch in meiner jetzigen Position als Teil der Unternehmensführung kann ich nicht behaupten, mich interessiere nur das Digitale und der Rest nicht. Aber mein Herz schlägt weiterhin für coole und innovative Lösungen sowie für den technologischen Fortschritt generell.

Was den Tourismus angeht, sind Sie ein Neuling. Wie fasst man in Pandemiezeiten in einer fremden Branche Tritt?

Seit meinem Antritt im Juli fanden leider kaum Veranstaltungen statt. Deshalb fehlt mir noch das breite Netzwerk, das im Tourismus so wichtig ist. Auch hätte ich längst einzelne Marktvertretungen von Schweiz Tourismus im Ausland besuchen sollen, um zu sehen, wie sie dort arbeiten und wie das Key Account Business in den Märkten funktioniert. All das werde ich nachholen, sobald es möglich ist. Glücklicherweise hat mich das gesamte Team von Schweiz Tourismus trotz der schwierigen Situation freundlich aufgenommen. Was mir zudem geholfen hat, ist meine Leidenschaft für die touristische Schweiz als Produkt. Diese Faszination ist einzigartig und lässt sich mit keinem Produkt meiner früheren Arbeitgeber vergleichen.

Ihr Vorgänger Thomas Winkler hat die Digitalstrategie von Schweiz Tourismus während 20 Jahren geprägt. Was wollen Sie verändern?

Ich möchte unsere Website MySwitzerland.com von einem Content-Hub zu einem Erlebnis-Hub weiterentwickeln. Die Pandemie hat uns gezeigt: Es reicht nicht, lediglich zu inspirieren. Zwar ist das unser zentraler Auftrag, aber wir möchten in Zukunft die gesamte Customer Journey orchestrieren, also den Prozess von der Inspiration bis zur Buchung. Das ist bis jetzt noch Neuland für Schweiz Tourismus.

Da trifft es sich gut, dass Sie einen Hintergrund im E-Commerce haben.

Ja. Trotzdem wird Schweiz Tourismus auch langfristig nicht zu einer Buchungsmaschine werden – das widerspräche nicht zuletzt dem Subsidiaritätsprinzip. Aber wir müssen dem Gast ein möglichst nahtloses Erlebnis bieten, bis er bereit ist, den Buchungspartnern übergeben zu werden.

Immer mehr Destinationen setzen auf eigene Verkaufslösungen. Wird hier nicht das Rad jedes Mal aufs Neue erfunden?

Ich begrüsse diese Entwicklung. Jede Destination liefert uns so wertvolle Erkenntnisse und trägt zum digitalen Fortschritt bei. Aus ihrem Erfolg kann sich später Potenzial für Verkaufslösungen auf nationaler Ebene ergeben. Zwar soll jede Destination ihren eigenen Auftritt behalten, aber es gibt ein grosses Potenzial für einen grossen Marktplatz auf nationaler Ebene, bei dem sich alle Angebote einklinken können.

Sie spielen auf «Swisstainable» an, eine neue Buchungsplattform für nachhaltige Erlebnisse...

Richtig. Swisstainable ist ein Pilotprojekt und soll im Sommer 2021 nahtlos in die Website MySwitzerland.com integriert werden. Die Ausschreibung läuft noch, doch es haben sich bereits über 200 Anbieter von nachhaltigen Erlebnissen beworben. Am Schluss soll man dort schöne Packages buchen können, um nachhaltige Ferien in der Schweiz zu verbringen.

An welchen Playern von ausserhalb der Branche orientieren Sie sich?

Die grossen Vorbilder sind sicherlich Amazon oder Ebay. Sie führen uns vor, wie man ein Online-Einkaufserlebnis durchgängig gestaltet. In der Schweiz macht das übrigens Digitec sehr gut, wo nicht nur die E-Commerce-Plattform zu den fortschrittlichsten gehört, sondern auch ihre Kampagnen erfrischend anderes daherkommen. Diesen E-Commerce-Unternehmen können wir über die Schultern schauen und von ihnen lernen, auch wenn ihre Produktpalette eigentlich nichts mit unserem touristischen Angebot zu tun hat.

Als Branchenneuling haben Sie eine frische Sicht in den Schweizer Tourismus. Was fällt Ihnen in der Branche auf?

Ich finde, man sollte den Blick noch stärker auf den Gast richten. Er kommt in die Schweiz, bewegt sich von der Destination A über die Destination B zur Destination C. Warum muss er dabei jedes Mal seine Daten eingeben, wenn er eine neue Gästekarte ausfüllt? Hier fehlt die Durchgängigkeit, das ist noch kein nahtloses Schweiz-Erlebnis.

Was schlagen Sie vor?

Wir könnten jedem Gast eine digitale touristische Identität anbieten, die ihn effizient und sicher durch das ganze Reiseland führt. Die digitalen Möglichkeiten von heute haben hierfür bereits das Potenzial. Eine solche Vereinfachung für den Gast würde uns einen kompetitiven Vorteil gegenüber unseren Mitbewerbern bieten. Diese digitale Identität würde uns gleichzeitig helfen, den Gast zu erneuten Schweiz-Besuchen zu motivieren – und das gezielt basierend auf seinen Interessen. Allerdings können und wollen wir den einzelnen Destinationen nicht einfach zentralistische Lösungen aufoktroyieren. Wir müssen die Balance finden zwischen der individuellen Freiheit der Destinationen und einem gemeinsamen Nutzen für eine integrierte digitale touristische Schweiz.

Genau eine solche Lösung ist gerade am Entstehen: Discover.Swiss.

Discover.Swiss ist ein wichtiges Projekt, mit dem wir im Austausch sind. Dem Projekt muss es jetzt gelingen, eine kritische Masse auf die Plattform zu bringen. Vor allem für kleinere Regionen, die oft nicht die Mittel haben, eigene IT-Infrastrukturen aufzubauen, kann das sehr interessant sein.

Auch die Blockchain-Technologie böte ein Fundament für eine weiträumige Zusammenarbeit. Was halten Sie von der Technologie?

Sehr viel. Die gemeinsame, anonymisierte Datennutzung macht Blockchain sehr mächtig. Die Mittelsmänner werden eliminiert, das System wird effizienter und skalierbarer. Gleichzeitig ist die Technologie sehr sicher, das Missbrauchspotenzial gleich null. Das Potenzial ist riesig.

Heidiland Tourismus will künftig auf Blockchain setzen.

Das Beispiel Heidiland finde ich hervorragend. Verschiedene Tourismusakteure haben sich dort auf eine gemeinsame technologische Lösung geeinigt. Sie haben sich damit ein eigenes kleines Ökosystem geschaffen. Ich bin sehr gespannt, wie sich diese Transformation auf das Geschäft auswirken wird, und werde die Entwicklung mit grosser Aufmerksamkeit verfolgen.

Welche anderen Zukunftstechnologien werden dieses Jahrzehnt prägen?

Das ist eine schwierige Frage. Die künstliche Intelligenz als Themengebiet ist praktisch schon omnipräsent, so in Form von Sprach- und Bilderkennung, virtuellen Assistenten oder maschinellem Lernen. Gleichzeitig geht die Entwicklung rasant weiter in Richtung autonome Systeme, die in selbstfahrenden E-Autos schon anzutreffen sind. Aber ich möchte Ihnen eine Gegenfrage stellen: Was prägt den Fortschritt heute?

Smartphones?

Dass Smartphones überhaupt existieren, liegt daran, dass immer höhere Rechenleistung auf immer kleinerem Raum immer günstiger produziert wird. In Verbindung mit 5G finde ich deshalb das «internet of things» besonders faszinierend mit seinem Potenzial für unzählige Anwendungen, auch im Tourismus. Wir brauchen gar nicht lange nach der neusten Zukunftstechnologie zu suchen. Es reicht schon, wenn wir jene geschickt und konsequent nutzen, die bereits existieren.

Wo könnte ein «internet of things» im Tourismus zum Einsatz kommen?

Ich denke da an zusätzliche Hilfen vor Ort, welche die Gäste in Echtzeit über die aktuelle Auslastung verschiedener Angebote informieren, sei es die Verfügbarkeit von Parkplätzen in Skigebieten, freie Tische in Restaurants oder auch Stehplätze in Bergbahnen. Das sind einige Anwendungsfälle, für die es keine neuen Technologien braucht und die an einigen Orten bereits heute funktionieren, etwa in Laax oder in Zermatt. Solche Lösungen bieten übrigens auch mit Blick auf die Pandemiesituation klare Vorteile. Ich gehe nämlich davon aus, dass es noch Jahre dauern wird, bis sich die Leute in Menschenmassen wieder wohlfühlen werden.