Roland Schegg, im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco haben Sie gemeinsam mit Tourismusforschenden der Universitäten St. Gallen und Bern und der Hochschule Luzern Bilanz zur Digitalisierung im Schweizer Tourismus gezogen. Ihr Befund: Die Schweiz steht bei der digitalen Transformation im internationalen Vergleich zwar gut da – auf den Tourismussektor trifft dies jedoch nur teilweise zu. Woran liegt es?
Die Probleme sind oft strukturell bedingt. Die Schweizer Tourismusbranche ist sehr kleinteilig und wird von KMU dominiert. Eine internationale Skalierbarkeit von digitalen Lösungen ist damit kaum möglich. Nehmen Sie als Gegenbeispiel die Erlebnisvermittlungsplattform Getyourguide: Sie wurde in Zürich gegründet, richtig erfolgreich wurde sie jedoch erst mit der internationalen Expansion. Im Schweizer Kontext setzen noch viele Tourismusbetriebe auf veraltete digitale Lösungen.
Roland Schegg ist seit 2005 Professor an der HES-SO Wallis und Forschungskoordinator des Instituts Tourismus. Daneben ist er Analyst am Walliser Tourismus-Observatorium in Siders. Der 58-Jährige lebt in Genf, ist verheiratet und hat drei Kinder.
Was genau heisst veraltet?
Zum Beispiel die PMS (Property-Management-Systeme) in der Hotellerie. Eine Umfrage unter 70 Walliser Hotelbetrieben vor ein paar Jahren hat ergeben, dass 35 verschiedene PMS im Einsatz waren, von Excel bis Fidelio. Gewisse Hoteliers setzen seit vielen Jahren auf das gleiche System. Es wird zwar nicht mehr aktualisiert, aber es läuft noch und wird darum weiterhin genutzt. Leider verpassen solche Betriebe so die aktuellen Weiterentwicklungen und neue Möglichkeiten, Automatisierungspotenziale und auch Effizienzgewinne zu realisieren. Und die PMS sind nur die Spitze des Eisbergs. Da sind das Kassensystem, die Salärverwaltung, das Buchungssystem – es betrifft das gesamte Software-Ökosystem.
In diesem Zusammenhang fiel auch die bemerkenswerte Aussage: «Eine lange IT-Geschichte behindert mitunter die IT-Zukunft.»
Genau. Wir sprechen hier vom sogenannten Locked-in-Effekt. Existierende Softwareanbieter mit langjährigen Beziehungen zu den Tourismusakteuren, die viele Ressourcen in ein bestehendes IT-Umfeld investiert haben, können Bremser für innovative Lösungen sein, da diese Akteure ihre Technologiestrategie oft auf die Philosophie «Never change a running system» abstützen. In einem dynamischen und von digitalen Disruptionen geprägten Umfeld ist dieser Ansatz jedoch nur beschränkt zielführend. Viele Kernsysteme im Tourismus sind nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik und sind durch zahlreiche Erweiterungen so komplex geworden, dass sie oft die Digitalisierung und damit den Fortschritt bremsen.
Ist es nicht auch eine Frage des fehlenden Bewusstseins?
Psychologisch ist es schwierig, sich auf neue Produkte und Prozesse einzulassen. Stichwort Changemanagement. Bei der Wissensvermittlung – dem Know-what und Know-how – braucht es deshalb Initiativen auch auf Branchenebene. Das Problem ist aber, dass man oft nur einen Bruchteil der Betriebe erreicht. Wir sehen das oft bei Weiterbildungsprogrammen, die sehr gut laufen, aber immer die gleichen zehn Prozent der Betriebe interessieren.
Der Bericht verdeutlicht auch, dass die Datenlage im Tourismus ungenügend ist. Übernachtungen werden teilweise erfasst, Tourismusbewegungen dagegen nicht. Welche Art von Daten sollte man zusätzlich erfassen?
Die Besucherströme. Solche Informationen können zum Beispiel durch direkte Befragung der Reisenden erhobenen werden, durch automatische Zählstellen, direkt in Fahrzeugen gewonnene GPS-Bewegungsdaten oder durch an Applikationen gekoppelte GPS-Daten und – ganz spannend in dieser Thematik – über Mobilfunkdaten, das heisst Geolokation.
Wie funktioniert diese Geolokation?
Die Mobilfunkdaten, welche die Mobilnetzbetreiber zwecks Qualitätsverbesserung sammeln, werden zunächst anonymisiert, zusammengefasst und anschliessend in aussagekräftige Erkenntnisse umgesetzt. Daraus können Bewegungsmuster der Besucherinnen und Besucher gewonnen werden.
Und was macht dann die Destination mit diesen Daten?
Wusste eine Destination bisher lediglich, dass sie im vergangenen Monat vielleicht 10'000 Gäste begrüssen konnte, kennt sie in Zukunft auch deren regionale und lokale Herkunft. Zudem kann sie sagen, wie viele Tages- und Übernachtungsgäste da waren. Sie erhält also eine feinere Auflösung der Gästestruktur, und zwar nicht nur als Monatsstatistik, sondern heruntergebrochen auf jeden einzelnen Tag.
Und wie kann die Destination dieses Wissen gewinnbringend nutzen?
Sie kann beispielsweise den Impact eines Events messen. Viele Destinationen stehen regelmässig vor der Frage, ob sie einen Event mittragen sollen oder nicht. Ihnen fehlen schlicht und ergreifend die Zahlen, also die Key-Performance-Indikatoren, mit denen Sie Erfolg messen könnten. Dank solch einer Lösung geht das.
Was für Möglichkeiten gibt es noch?
Sie können gezieltes Geomarketing machen. Wenn Sie erkennen, dass Sie zwar viele Gäste aus Zürich haben, aber kaum welche aus Solothurn, können Sie auf sozialen Medien wie Facebook oder Google entsprechende Werbeanzeigen in den gewünschten Gebieten schalten. Sie können also weitaus zielgerichtetere Angebote als bisher üblich schnüren.
Gleichzeitig sticht die Aussage ins Auge: «Die Digitalisierung im Tourismus besteht vor allem aus der intelligenten Nutzung verfügbarer Technologien und Lösungen.» Steht das nicht im Widerspruch zur Einführung neuer Tools?
Nein. Gemeint ist, dass es verfügbare Standardlösungen gibt, auf die man setzen könnte, anstatt stets neue, eigene Lösungen zu entwickeln. Wenn Sie auf eine grössere, international anerkannte Standardlösung setzen, können Sie profitieren und sich möglicherweise schneller an technologische Veränderungen anpassen.
Das schafft andererseits Abhängigkeiten von den grossen IT-Providern. Wie Sie selbst sagten, ist der Technologieentscheid oft gleichzeitig ein Strategieentscheid. Als möglichen Ausweg aus der Abhängigkeitsfalle bringen Sie Open Source ins Spiel.
Diese Message richtet sich mehr an das Seco und andere Förderstellen, damit diese bei der Unterstützung technologischer Projekte daran denken, dass sich Lösungen skalieren und weitentwickeln lassen sollten. Eine Mindestanforderung sollte sein, dass eine Lösung auch mit anderen Systemen zum Austausch von Daten kommunizieren kann. Insellösungen ohne «Andockstellen» haben da oft Schwierigkeiten. Die Open-Source-Philosophie bietet hier hingegen Perspektiven für zukünftige Entwicklungen.
Ein weiteres Thema sind laut Ihrem Bericht die fehlenden Fachkräfte. Ein altes Problem, das sich im Zuge der Digitalisierung noch weiter zuspitzen wird?
Die modernsten Systeme und die besten Daten nützen nichts, wenn die Leute fehlen, die sie bedienen beziehungsweise interpretieren können. Leider können Tourismusorganisationen im Wettbewerb um die Fachkräfte oft keine kompetitiven Löhne bieten. Ich habe Geschichten aus weltbekannten Destinationen gehört, wo man Schwierigkeiten hatte, entsprechende Positionen zu besetzen.
Sehen Sie eine Lösung für dieses Problem?
Eine mögliche Lösung sind Kompetenzzentren für Digitalisierung in den Regionen, wie zum Beispiel die TSO AG in der Ostschweiz. Sie bündelt die Kapazitäten auf regionaler Ebene. Allerdings ist immer die Frage, wer für die Finanzierung verantwortlich ist. Der Kanton? Die regionalen Tourismusorganisationen? Da gibt es unterschiedliche Modelle. Vielleicht würde für ausgewählte Bereiche der Digitalisierung auch eine nationale Lösung Sinn machen.
Und was liesse sich auf privatwirtschaftlicher Ebene machen?
Mehrere Akteure könnten sich zusammenschliessen, um gemeinsam eine kritische Grösse zu erreichen. So käme genügend Geld zusammen, um Spezialisten konkurrenzfähige Löhne bezahlen zu können.
Kennen Sie ein solches Beispiel in der Schweiz?
Ja, die IG Hotels Gstaad-Saanenland. Die beteiligten Hoteliers arbeiten auch im digitalen Bereich zusammen. Gemeinsam haben sie eine externe Managerin angestellt, die hilft, Prozesse zu vereinfachen und die Effizienz zu steigern. Wo früher jedes einzelne Hotelrestaurant seine Produkte telefonisch und mit dem Notizblock zur Hand bei den jeweiligen Lieferanten bestellt hatte, läuft heute alles über einen Webshop. Über das System kann nun jeder Koch direkt aus der Küche heraus via Tablet Waren nachbestellen. Die Anfragen gelangen direkt an die Zulieferer, was Zeit und Administration erspart. Der Gewinn ist für alle sofort sichtbar. Solche Erfolgserlebnisse sind wichtig, sie machen Digitalisierung greifbar.
Unter dem Strich bietet die Digitalisierung der Branche also in erster Linie Potenzial für finanzielle Einsparungen und Effizienzgewinne?
Nicht nur. Durch kleine, wie eben beschriebene Effizienzgewinne wächst gleichzeitig die Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Sie haben mehr Zeit, sich auf die wichtigen Dinge konzentrieren zu können – zum Beispiel auf das Wohl der Gäste. Sie haben mehr Freude an ihrer Arbeit. Die Digitalisierung kann sich so auch positiv auf das Zwischenmenschliche auswirken.
Der Bericht
Im Rahmen des Projekts Digitalisierung im Schweizer Tourismus hat ein Team von Schweizer Forschenden unter der Leitung der Universität St. Gallen Mitte September einen Fortschrittsbericht zum Stand der Digitalisierung der Tourismusbranche herausgegeben und konkrete Handlungsempfehlungen formuliert. Daran beteiligt waren auch das Walliser Tourismus-Observatorium, die Hochschule Luzern sowie die Universität Bern.
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