Martin Candinas, der frisch gewählte Nationalratspräsident, ist ein überzeugter Bergler und eine Frohnatur. Entsprechend gut gelaunt empfängt er die htr hotelrevue in seinem Büro direkt neben der Wandelhalle, das ihm für ein Jahr zur Verfügung steht.
Herr Candinas, wo haben Sie Ihre Winterferien verbracht?
Ein paar Tage in der Surselva und ein paar Tage in Chur. Wir sind nicht weggefahren, weil wir hier alles haben; hier ist es am schönsten. Die Winterferien verbringen wir vor allem auf den Ski.
Il pli aut Svizzer
«President» steht seit einigen Wochen in goldenen Buchstaben über dem Büro des Nationalratspräsidenten im Bundeshaus. Das sei Rätoromanisch, klärt uns Martin Candinas auf, der stolz ist auf seine Muttersprache. Der Bündner Mitte-Nationalrat aus der Surselva wurde in der Wintersession Ende November mit 181 von 188 gültigen Stimmen für ein Jahr zum höchsten Schweizer gewählt. Politisch will sich Candinas in diesem Jahr zurückhalten. Der 42-Jährige hat sich einen Ruf als Berg- und Tourismusvertreter gemacht, ist unter anderem Mitglied der parlamentarischen Gruppe für Tourismus und seit 2016 Vizepräsident der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete. Mit 18 Jahren trat der gelernte Sozialversicherungsfachmann der Jungen CVP bei, später wurde er Grossrat und mit 31 dann Nationalrat. Candinas wohnt mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern in Chur.
Sie gelten als Interessenvertreter der Bergregionen. Setzt man sich da automatisch für den Tourismus ein?
Die meisten Gemeinden bei uns in den Bergen leben vom Tourismus und verdienen dort jeden zweiten Franken – oder noch mehr. Wenn Tourismus in einer Region der Motor ist, wird man als Vertreter dieser Region automatisch zum Touristiker. Natürlich haben wir Bergler teils unterschiedliche Meinungen zum Tourismus und seiner Zukunft. Der Tourismus ist einfach der wichtigste Wirtschaftszweig. Wenn dieser Motor nicht mehr funktioniert, haben wir ein Problem. Meine Meinung ist: Nur mit Schutz bringen wir keine Wertschöpfung in die Berge. Unsere Kernaufgabe ist es deshalb, dafür zu sorgen, dass die Leute in den Bergen Geld ausgeben können.
Ich denke schon, dass der Tourismus gehört wird. Im Tourismus gehen die Interessen aber auseinander. Die verschiedenen Akteure könnten noch besser zusammenarbeiten.
Werden die Interessen des Tourismus in Bundesbern adäquat vertreten?
Ich denke schon, dass der Tourismus gehört wird. Im Tourismus gehen die Interessen aber auseinander. Die verschiedenen Akteure könnten noch besser zusammenarbeiten. Auch wenn ich hier gegenüber früher eine Verbesserung feststelle. Mit dem neuen Präsidenten des Schweizer Tourismus-Verbands und dem neuen Direktor [Anm. Nicolo Paganini und Philipp Niederberger] spürt man neuen Schwung. Es ist aber nicht ganz einfach, die heterogene Gruppe zu vertreten. Es hilft dem Tourismus, dass jede und jeder von uns regelmässig selbst Gast in der Schweiz ist. So haben alle einen Bezug zum Tourismus.
Hat die Pandemie zusammengeschweisst?
Ja, in der Pandemie ist es dem Tourismussektor relativ gut gelungen, einheitlich aufzutreten. So hat man viel erreicht. Ein Wirtschaftssektor muss nicht immer einer Meinung sein, aber es braucht den Mut, sich auf jene Themen zu fokussieren, bei denen man einen gemeinsamen Nenner findet, und die anderen sein zu lassen.
Subventionen lösen das eigentliche Problem nicht, weil dadurch nicht mehr Strom oder Gas entsteht und verteilt werden kann.
Nach Corona ist die Energie die nächste grosse Sorge. Im benachbarten Ausland diskutiert die Politik über Energiepreissubventionen. Warum in der Schweiz nicht?
Subventionen lösen das eigentliche Problem nicht, weil dadurch nicht mehr Strom oder Gas entsteht und verteilt werden kann. Zudem hängt es auch damit zusammen, dass die Schweiz eine Liberalisierung angestrebt hat. Es geht nicht, dass man liberalisiert, und wenn der Markt dann nicht so spielt, wie man sich das vorstellt, nach Staatshilfe ruft. Die Unternehmen am freien Strommarkt haben lange von der Liberalisierung profitiert. Und man kann nicht Gewinne privatisieren und Verluste sozialisieren. So hart das ist: Energie sparen wir am besten, wenn wir es hinten rechts ein bisschen spüren. Nur sollte es nicht so weit kommen, dass Unternehmen in ihrer Existenz bedroht sind. Deshalb müssen wir die Lage im Auge behalten.
Sehen Sie Preiserhöhungen im Tourismus als einen Ausweg?
Tourismusunternehmen müssen vermutlich den Mut haben, etwas höhere Preise zu verlangen, so wie es viele Unternehmen im Ausland auch machen. Verglichen mit dem Ausland ist unsere Teuerung noch im Mass. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf zu hohem Niveau lamentieren. Und der Staat muss nach Corona aufpassen, dass er nicht immer und überall mit finanziellen Hilfen unterstützt – das sind wir nicht zuletzt den nachfolgenden Generationen schuldig. Corona war zudem eine ganz andere Situation, weil der Staat Einschränkungen befohlen und deshalb zu Recht geholfen hat.
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Als Weg aus der Energiekrise ist immer wieder vom Aus- und Aufbau von Kraftwerken die Rede. Wind-, Wasser- und Solarkraftwerke können aber die Landschaft verschandeln, die für den Tourismus so wichtig ist. Ein Dilemma?
Kaum findet Fotovoltaik eine breite Akzeptanz, gibt es Stimmen, die monieren, es sehe nicht schön aus. Aber wir können nicht umweltfreundliche Energie wollen, und dann alle Projekte verhindern, die in diese Richtung gehen. Unser Strombedarf wird nicht sinken, sondern zunehmen – vor allem, wenn wir die fossilen Energien ersetzen. Deshalb müssen wir mehr Kraftwerke für erneuerbare Energien bauen – und dafür eignet sich das Berggebiet optimal. Die Frage ist nur, wo im Berggebiet.
Und? Wo sollen wir bauen?
Nehmen wir die Projekte, die für die Surselva in der Pipeline sind. Viele davon sind bei einem Stausee geplant, und der ist nicht gerade das Schönste, was wir in der Region zu bieten haben. Wenn wir die Projekte gut überlegt an einem Ort zentralisieren, ist dieses Gebiet ein Energie-Cluster, der niemanden stört. Wir wollen unsere schöne Landschaft schützen. Aber die Leute sollen in unseren Landschaften auch Geld verdienen, leben und sie pflegen können. Erneuerbare Energien sind eine Chance für das Berggebiet – und für die Schweiz, die damit unabhängiger wird.
In dem Zusammenhang wird oft das gescheiterte Stromabkommen mit der EU erwähnt. Das hat der Europadebatte in der Schweiz zuletzt Schwung verliehen. Wie sehen Sie den europapolitischen Weg in die Zukunft?
Wir sind keine Insel, sondern ein Teil von Europa. Immer mehr Themen enden nicht an der Landesgrenze. Das spüren wir zurzeit in der Energiedebatte und haben das auch während der Pandemie gespürt. Die Frage ist: Finden wir eine Lösung, die uns genügend Souveränität lässt und gleichzeitig mehr Zusammenarbeit mit der Europäischen Union ermöglicht. Das ist eine Gratwanderung. Derzeit finden Sondierungsgespräche statt, weil sich alle einig sind, dass wir beim Verhältnis zur EU mehr Klarheit schaffen müssen.
Zudem muss man ehrlich sein: Booking und all die anderen Plattformen sind für die hiesige Hotellerie ein Segen.
Eines der wichtigsten Gesetze für die Hotellerie war letztes Jahr die Lex Booking. Die Nachbarländer waren uns in diesem Punkt um Jahre voraus. Braucht es manchmal das Vorangehen der EU-Nachbarn, damit sich in der Schweiz etwas bewegt?
Die Frage, die ich mir stelle, ist eine andere: Warum waren nicht wir die Ersten, die in der Causa Booking etwas unternommen haben? Warum hat es die Schweiz nicht geschafft, schon vor Jahren so eine Buchungsplattform aufzubauen? Diese Fragen stelle ich dem Tourismus, der Hotellerie. Man hat die Konditionen jahrelang akzeptiert und die Macht der Plattformen kommen sehen. Zudem muss man ehrlich sein: Booking und all die anderen Plattformen sind für die hiesige Hotellerie ein Segen. In meiner Region höre ich von Hoteliers, die mir sagen, Booking sei das Beste, was ihnen je passiert sei. Die machen ihre ganze Werbung über Booking, was ihnen Zugang zu einem Publikum ermöglicht, das sie sonst nie erreicht hätten. Ich selbst gehe immer wieder auf Booking, buche dann aber direkt beim Hotel.
Genau davor hat Booking Angst. Droht Booking zur reinen Vergleichsplattform zu werden?
Das wird nie passieren. Persönlich mache ich die Buchungen direkt, weil mir die Hotellerie am Herzen liegt. Die meisten Leute sind aber zu bequem. Sie fragen sich, warum soll ich dem Hotel zuliebe direkt buchen, wenn ich es gleich bei Booking machen kann?
Weil künftig der Preis beim Direktbuchen günstiger ist.
Das werden wir sehen. Es gibt auch Hotels, die wollen einem nicht einmal den Booking-Preis anbieten, wenn man direkt anruft. Zudem ist der Kunde bequem und will schnell sein. Wenn der Preis auf Booking stimmt, buchen die meisten das Zimmer gleich. Klick, erledigt. Diese Einfachheit müssen wir im Tourismus noch viel mehr anstreben.
Wenn der Zaun um den Wolf herum gross genug ist, bin ich immer für den Wolf zu haben. Bärenpark, das klingt natürlich, ist aber letztlich nichts anderes als ein Zoo. So muss man Grossraubtiere touristisch vermarkten.
Wechseln wir zur archaischen Welt des Wolfs: Sie sind bekannt als Kritiker von Meister Isegrim. Dabei gibt es auch Stimmen, die das touristische Potenzial der Grossraubtiere betonen.
Wenn man diese Idee hat, ist man weit weg von der Realität. Der Wolf sitzt nicht am Wegrand und wartet auf Touristen. Am Wolf kann man vielleicht aus Tierschutzgründen Freude haben, aber sicher nicht aus touristischer Sicht. Wo soll der touristische Mehrwert sein, wenn Gäste Angst haben, abends das Hotel oder die Ferienwohnung zu verlassen oder – noch schlimmer – überhaupt in die Berge zu fahren?
Also keine Wolfsafaris in der Surselva?
Es ist schwierig, den Wolf überhaupt zu sehen. Wenn einer Wolfsafaris anbietet, kann man das nicht verbieten. Gegenüber den Bauernfamilien, die unter der Wolfspräsenz massiv leiden, finde ich es jedoch höchst problematisch. Wir müssen im Tourismus zwar alles vermarkten, was eine Zahlungsbereitschaft findet, aber ethisch muss es vertretbar sein. Auf jeden Fall wehre ich mich vehement, wenn man Wölfe schützen will, um Wolfsafaris anzubieten. Ich habe bis heute keinen Touristiker getroffen, der mir gesagt hätte, dass Wolfsafaris mehr sein könnten als ein absolutes Nischenprodukt.
Dann halten Sie das Modell Bärenpark von Arosa für Erfolg versprechender?
Das ist eine Supersache. Wenn der Zaun um den Wolf herum gross genug ist, bin ich immer für den Wolf zu haben. Bärenpark, das klingt natürlich, ist aber letztlich nichts anderes als ein Zoo. So muss man Grossraubtiere touristisch vermarkten. Warum nicht ein Wolfspark in der Surselva?
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Ein touristischer Trend sind die Authentizität und die Regionalität. Viele Bündner Betriebe zelebrieren das mit dem punktuellen Gebrauch der rätoromanischen Sprache, die Ihnen persönlich auch sehr am Herzen liegt. Wird diese Schweizer Besonderheit touristisch genug genutzt?
Das touristische Potenzial des Romanischen ist sehr gross. Früher hat man sich dafür fast ein wenig geschämt. Wir haben das zu wenig gelebt. Aber die Gäste wollen eine Region mitsamt ihren Spezialitäten authentisch erleben. Im Bündnerland können wir unsere Regionalität unterstreichen, indem wir zum Beispiel lokale Gerichte auf Romanisch anschreiben. Unsere Sprache haben nur wir in unseren Tälern. Das kann uns niemand streitig machen, das kann niemand kopieren. Aber letztlich muss jemand das Potenzial nutzen. Wir reden viel zu viel, anstatt dass wir machen.
In einem Postulat fordern Sie eine bessere ÖV-Erschliessung touristischer Angebote. Wie beurteilen Sie die Ausgangslage?
Einige Angebote sind perfekt erschlossen, andere nicht. Wir reden von Klima, von Nachhaltigkeit, geben diesen Begriffen aber viel zu selten einen konkreten Inhalt. Hier ist auch der Tourismus gefragt. Ein Beispiel: Es reicht nicht, wenn der Gast zwar mit dem ÖV anreisen kann, aber dann vor Ort keine Flexibilität hat. Berghotels sollten deshalb Autos vermieten, entweder selber oder über Partner wie Mobility oder eine lokale Garage. Ich reise nur mit dem Zug an, wenn ich vor Ort ein Auto nutzen kann, um auch mal einen Ausflug in ein entlegenes Tal zu machen, wo kein Bus hinfährt. Gleichzeitig müssen wir, gerade bei neuen Projekten, von Beginn weg an eine gute ÖV-Erschliessung denken – immer. Das ist auch für ältere Gäste wichtig, die oft nicht mehr Auto fahren, verlangt aber ein Umdenken.
Die Schweiz lässt Branchen hochleben, die viel weniger ökologisch sind als der Tourismus.
Zu den Kraftwerken haben Sie vorhin gesagt, es sei sinnvoll, diese an einem Ort zu zentrieren. Gilt das auch für touristische Angebote?
Das passiert heute schon und ist sinnvoll, ja. So kann der ÖV besser ausgelastet werden. Und es ist auch interessanter für die bestehenden Hotels und Restaurants. Nehmen wir das Catrina Resort in Disentis. Als das gebaut wurde, hiess es teilweise: Jetzt bauen die hier so ein Riesending mit mehreren Restaurants und machen damit die Dorfgastronomie kaputt. Wenn ich heute mit den Wirten rede, sagen sie mir, sie hätten mehr Gäste als vorher. Niemand will eine Woche lang im Resort essen. Es ist Aufgabe der Wirte im Ort, die Gäste in ihr Restaurant zu holen.
Beim touristischen Verkehr fällt das meiste CO2 beim Fliegen an. Deshalb ist eine Debatte entbrannt, ob die touristische Schweiz noch in Fernmärkten werben soll. Was meinen Sie?
Wir müssen alles dafür tun, dass Gäste aus der Nähe mit dem Zug anreisen. Aber für Gäste aus Fernmärkten gibt es keine Alternative zum Fliegen. Zum Glück wird die Fliegerei immer ökologischer. Da passiert sehr viel. Die Fernmärkte sind für einige Tourismusregionen zentral. Deshalb soll die Schweiz als internationales Land auf jeden Fall weltweit Werbung machen. Zudem wehre ich mich dagegen, dass der Tourismus als Sündenbock herhalten muss. Die Schweiz lässt Branchen hochleben, die viel weniger ökologisch sind als der Tourismus.